Zimetbaum Mala

Lorenz Sichelschmidt, Mala, ein Leben und eine Liebe in Auschwitz
Donat Verlag, 1995 - Uitreksel p 33-54

 

Ter info: in "Met de dood voor ogen" heeft Gie van den Berghe een studie gewijd aan Mala Zimetbaum
als onderdeel van zijn doctoraal werk dat integraal is gepubliceerd op z'n website www.serendib.be.

    

2 - Der Beginn einer langen Reise

    

Wir sahen sie auf einer langen Reise,
da trug sie ihr Kleid nicht mehr,
ind keine kleine Spange mehr im Haar
...
(Jakovos Kambanellis)

  

Kurz bevor de Zweite Weltkrieg auch auf Belgien übergreift, lernt Mala Zimetbaum, nun zewiundzwanzig Jahre alt, einem jungen Mann namens Charles Sand kennen. Charles — oder Karel, wie er auf flämisch heißt — ist am 23. November 1920 geboren, also fast drei Jahre jünger als Mala. Er stammt einer recht wohlhabenden Familie und hat zwei ältere Brüder. Er hat die höhere Schule besucht und steht am Beginn eines Studiums. Ein großer, schlanker blonder junger Mann ist Charles Sand; sportlich, unternehmungslustig, voller Optimismus. Mala nennt ihren Freund zärtlich " Charlotie", zweifellos in Anspielung auf den poetisch-melancholischen Filmcharakter Chaplins (der übrigens wenig später im Film dem "Großen Diktator" den Narrenspiegel eines kleinen jüdischen Friseurs vorhalten wird).

Belgien 1940: Mit der Okkupation werden auch in Belgien zahlreiche Verfügungen gegen jüdische Einwohner getroffen. Da die liberalen belgischen Behörden keine nach Religion differenzierten Statistiken geführt hatten, ist eine der ersten Maßnahmen der Besatzer die Erfassung aller jüdischen Einwohner in Listen. Zum Zeitpunkt der Besetzung leben in Belgien etwa 65.000 Juden. Viele von ihnen gelten als 'staatenlos'.- Fast vierzig Prozent sind Zuwanderer aus Osteuropa; dreißig Prozent sind Flüchtlinge aus Deutschland. Bis zum Oktober kommen nur 42.642 Personen im ganzen Land dem Befehl zur amtlichen Registrierung nach. Die übrigen sind untergetaucht oder vor den deutschen Besatzern ins benachbarte Ausland geflohen.

Charles Sand ist häufig in der Marinisstraat bei Mala Zimetbaurn und ihren Eltern zu Besuch. Im Lauf vieler gemeinsamer Unternehmungen wie etwa Radtouren, Kinobesuchen oder Ausflügen nach Mechelen und ins nahegelegene Lier kommen Mala und charles sich näher. Mit jungenhafter Nonchalance gelingt es Charles Sand, die zunächst zögernde Mala zu überzeugen, eine engere Beziehung ins Auge zu fassen: "Ach weißt Du, Mala, du wirst dich schon an mich gewöhnen!" Es ist vermutlich gegen Ende 1940, als Mala und ihr Charles sich verloben. Strahlend posieren die beiden, einander umarmend, offensichtlich glücklich, mit ihren Fahrrädern — einem Verlobungsgeschenk — vor dem Objektiv eines befreundeten Amateurfotografen.

Abb. 9 Charles Sand mit Mala Zimetbaum

1940: Während sich die belgische Wirtschaft nach der Kapitulation mit der Besatzungsmacht zu arrangieren versucht, begegnet die Mehrheit der belgischen Bevölkerung den Okkupanten mit passivem Widerstand. Wegen der wirtschaftlichen Ausbeutung Belgiens durch die deutschen Besatzer kann die belgische Bevölkerung nicht mehr in ausreichendem Maß mit Bedarfsgütern versorgt werden. Brennstoff wird knapp; die Lebensmittelpreise steigen drastisch; der Schwarzmarkt blüht. Überall auf den Straßen patrouillieren deutsche Soldaten.
Ein Foto, das bei einem Ausflug in den Süden Antwerpens entstanden ist, zeigt eine sichtlich erwachsenere Mala Zimetbaum. Die junge Frau ist mit einer hellen Bluse und einem knielangen, grobkarierten Rock leger, aber dennoch sorgfältig gekleidet. Es ist ein warmer Früsommertag: Mala hat die Ärmel ihre Bluse hochgerollt, trägt aber, um sig nicht zu erkälten, noch ein Halstuch; ihre Handtasche hat sie neben ihrer Jacke im Gras abgelegt. Das Bild täuscht eine Idylle vor, die mit der Alltagswirklichkeit wenig zu tun haben dürfte -das Leben im besetzten Belgien ist schwierig geworden. Auch die Zimetbaums können sich dem Druck der Situation nicht entziehen: Am 5. Dezember 1940 wird das amtliche Judenre­gister der Gemeinde Borgerhout um einen Eintrag ergänzt — Zimetbaum Malka, staatenlos, wohnhaft Marinisstraat 7.

Abb. 10: Mala Zimetbaum (Aufnahme ca. 1941).

Belgien 1941: Immer deutlicher wird die politische Polarisierung dem von Deutschen besetzten Land. Einerseits lehnen viele Vertreter des öffentlichen Lebens eine Zusammenarbeit mit den Besatzern ab; andererseits stehen weite Bereiche der öffentlichen Verwaltung unter der Kontrolle von Kollaborateuren. Belgische Nationalisten finden eine gewisse Resonanz; die flämische Legion der Waffen-SS verzeichnet bald über 1.000 freiwillige Mitglieder. Gewalttaten gegen jüdische Einwohner und Einrichtungen häufen sich. Der Militärbefehlshaber wendet sich gegen derartige Ausschreitungen mit dem Argument, die Frage der Abschiebung der Juden könne nur planmäßig und zentral geregelt werden.

Obwohl Mala Zimetbaum — auch während des Krieges — deutsche Bekannte hat, ist ihr doch durchaus bewußt, daß den jüdischen Einwohnern von Seiten der deutschen Besatzer ernste Gefahren drohen. Ihre Schwester Jochka gibt an, Mala habe daheim wiederholt die Auffassung vertreten, sorglose Zuversicht sei unangebracht. «Mala hat zuhause gesagt; "Ja, ihr glaubt, die Deutschen würden uns nichts tun, würden uns Brot und Arbeit geben; aber eines Tages kommen sie unverhofft und nehmen uns von der Straße weg fest." Und keiner glaubte ihr. Die Menschen glaubten das nicht. Flüchtlinge, die dreiunddreißig, vierunddreißig aus Deutschland hierher gekommen sind, haben davon erzählt. Aber wie konnte man das glauben; das konnte doch nicht sein ...»

Einige Zitate aus einem Reiseführer, verfaßt von einem deutschen Besatzungssoldaten: «Antwerpen ist flämisch und im weiteren Sinne deutsch. Am hohen Turm der gotischen Kathedrale flattert des Reiches Flagge. » Der Verfasser geht besonders auf den kosmopolitischen Charakter der Stadt ein: « Vom Hauptbahnhof nur ein paar Meter Weges, und Du verspürst den Hauch dessen, was diese Stadt auszeichnet unter vielen: die vornehme Ruhe, das Aristokratische. De Keyserlei repräsentiert das Antwerpen des 20. Jahrhunderts.» Und dann, nach allerhand Betrachtungen ûber die kulrturelle und wirtschaftliche Bedeutung der stadt, zwei entlarvende Sätze: "Wie es drüben in den Diamantbörsen der Pelikaanstraat zugegangen ist, weiß ich nicht zu sagen. Dort gaben die Juden den Ton an, und dann war es plötzlich vorbei".

Am 14. April 1941, dem Tag vor dem jüdischen Pessachfest, läuft im Antwerpener Kino 'Rex' der nationalsozialistische Propagandafilm "Der ewige Jude". Nach der Vorführung marschieren etwa zweihundert Rechtsradikale, Parolen wie "Juda verrecke!" grölend, durch das jüdische Wohnviertel. Mitglieder des Vlaams Nationaal Verbond, der rassistischen "Volksverwering" und der flämischen SS brennen zwei der Antwerpener Synagogen nieder. Aus dem Fenster ihrer Wohnung in der Marinisstraat können die Zimetbaums beobachten, wie die uniformierten Horden durch die benachbarte Kroonstraat ziehen, jüdische Wohnungen verwüsten und jüdische läden plündern,. Seit diesem Tag verlassen Malas Eltern das Haus nicht mehr ohne Furcht.
Abb. 11: Verwüstete Synagoge in Antwerpen (1941).

Untergrundpresse und illegale Rundfunksender rufen zum Widerstand gegen die deutschen Besatzer auf. Lokale Partisanengruppen versuchen, die Maßnahmen der Militärverwaltung zu sabotieren. Ein "Comité de défense des Juifs en Belgique" bemüht sich mit Erfolg, Juden, vor allem Kinder, dem Zugriff der deutschen Sicherheitsorgane zu entziehen. Zahlreiche nichtjüdische Belgier unterstützen jüdische Verfolgte, indem sie ihnen zur Flucht ins Ausland verhelfen, sie mit gefälschten Papieren ausstatten oder in Privatwohnungen verstecken und mit Geld, Kleidung und Lebensmittelkarten versorgen. So auch der Primas der belgischen Katholiken, Kardinal Josef E. van Roey: Er weist kirchliche Einrichtungen an, Juden Asyl zu gewähren.

Angesichts der zunehmenden Repressalien knüpft Mala Zimetbaum erste Kontakte zu örtlichen Widerstandsgruppen, den sogenannten "Weißen Brigaden". Durch Vermittlung von Mala können sich die Brüder von Charles eine Genehmigung zum Grenzübertritt nach Frankreich beschaffen, um von dort aus in die neutrale Schweiz zu gelangen. "Oft denke ich noch an den Samstag, als ich bei Euch war mit Charles", schreibt Mala später in einer Postkarte an Bekannte. "Freuen würde es mich, wenn er mit seinen Brüdern zusammen wäre."

Dem zunehmenden Widerstand aus der Bevölkerung begegnen die deutschen Machthaber mit Verhaftungen und Geiselnahmen. Die Militärverwaltung hatte dazu im Fort Breendonk bei Boom, südlich von Antwerpen, ein Internierungslager für Kommunisten, Juden, Partisanen und andere als besonders gefährlich angesehene Personen eingerichtet. Die Festung Breendonk dient den Sicherheitsorganen der Besatzungsmacht als Gefängnis und Hinrichtungsstätte. Kommandant des Lagers ist der SS-SturmbannführerPhilipp J. Schmitt Wegen brutaler Übergriffe durch die SS-Wachmannschaften und wegen unzureichender Ernähung sind Todesfälle unter den Gefangenen in Breendonk nicht selten.

Auf einem Paßfoto, das vermutlich ende 1941 oder anfang 1941 entstanden ist, trägt Mala ihr dunkles Haar noch immer lang. Ihr Gesicht erscheint jedoch smaler als auf frügeren Fotografien. Mala blickt nachdenklich; ihr Gesichtsausdruck wirkt angespannt, konzentriert. Aber des Auffalendste ist etwas anderes: Das Gesicht auf dem foto lächelt nicht mehr.

Belgien 1942: Unter der wirtschaftlichen Ausbeutung des Landes durch die deutschen Besatzer haben in erster Linie die jüdischen Einwohner zu leiden. Bis Mitte Mai erhalten mehr als 6.000 jüdische Unternehmen den Befehl, sich aufzulösen. Kleinere Familienbetriebe müssen einen nichtjüdischen Käufer finden oder ihren Warenbestand — weit unter Wert — den Behörden übergeben. Teils freiwillige, teils zwangsverpflichtete Arbeitskräfte aus Belgien werden nicht nur im Land selbst, sondern auch in Frankreich und Deutschland eingesetzt. Zwischen Mitte Juni und Mitte September ziehen die Okkupanten mehr als 2.200 Juden zu Zwangsarbeiten heran.

Abb. 12: Mala Zimetbaum (Paßbild 1941)

Zu Anfang des Jahres 1942 wechselt Mala Zimetbaum den Arbeitsgeber. Sie ist nun im Sekretariat der 'American Diamond Company', einem mittelständische Unternehmen im Antwerpener Diamantenhandel, beschäftigt. Neben verschiedenen anderen Bürotätigkeiten erledigt sie unter anderem deutsch- und englischsprachigen Schriftverkehr. Nur ein paar Monate später muß sich die "American Diamond Company" auf Anordnung der deutschen Besatzer auflösen; die Firmen­inhaber wollen in die Vereinigten Staaten auswandern. Die Unternehmensleitung schlägt der Büroangestellten Zimetbaum vor, ebenfalls auszureisen. Doch Mala lehnt mit Rücksicht auf ihre Familie ab; sie bleibt in Borgerhout bei ihren Eltern.

Deutschland 1942: im Januar wird auf einer Konferenz am Berliner Wannsee die sogenannte Endlösung der Juden frage-, also der systematische Massenmord an den europäischen Juden, organisiert. Mit Bezug auf Belgien teilt der Leiter des RSHA-Judenreferats, SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, unter anderem mit, es sei "vorgesehen, ab Mitte Juli bzw. Anfang August ds. Jrs. in täglich verkehrenden Sonderzügen zu je 1.000 Personen zunächst etwa... 10.000 Juden aus Belgien zum Arbeitseinsatz abzubefordern." -Unterdessen beginnt die SS im polnischen Oiwiecim mit der Einrichtung des gigantischen nationalsozialistischen Konzentrationslagers Auschwitz II Birkenau.

Malas Bruder Salomon und ihr Onkel Isa erhalten einen sogenannten "Arbeitseinsatzbefehl", der sie zur Arbeit in der deutschen Kriegswirtschaft verpflichtet. Einsatzort der Zwangsarbeiter ist Boulogne an der nordfranzösischen Küste. Dort müssen sie beim Ausbau der Befestigungsanlagendes "Atlan-tikwalls" helfen. Die beiden ältesten Kinder Salomons, der sechsjährige Max und der fünfjährige Bernard, sind währenddessen im jüdischen Waisenhaus untergebracht. Um den zweijährigen Herman kümmern sich die Großeltern. Nach mehr als drei Monaten im Arbeitslager gelingt es Salomon und seinem Schwager, aus einem Rücktransport von Arbeitsunfähigen zu entkommen, zusammen mit Jochka in einem Versteck im Antwerpener Stadtteil Stuivenberg unterzutauchen und so der weiteren Verschleppung zu entgehen.

Arbeitseinsatzbefehle werden normalerweise über eine zentrale Institution, die 'Jodenvereeniging in Belgie', zugestellt. Diese Vereinigung, auf Veranlassung der deutschen Okkupanten gegründet, hat die Aufgabe, die Angelegenheiten der jüdischen Bevölkerung des Landes in Abstimmung mit der Besatzungsmacht zu regeln. 

"Die zuständige deutsche Behörde übermittelt uns heute einen von ihr auf Ihren Namen ausgestellten Arbeitseinsatzbefehl. Die Vereinigung der Juden in Belgien ist beauftragt, Ihnen denselben auf raschestem Wege zuzustellen ... Sorgen Sie für Ihre Ausrüstung mit den vorgeschriebenen Gegenständen, welche auf dem Arbeitseinsatzbefehl vermerkt sind."

Als die Zwangsmaßnahmen gegen die jüdischen Einwohner Belgiens immer stärker werden, versucht Mala mit Unterstützung von Charles Sand, ein Versteck für sich und ihre Eltern zu finden.

Abb. 13: Deutsche Besatzungssoldaten in Antwerpen (SS-Fotografie, 1942).

Sie hofft, die Familie vor der Verhaftung bewahren können. Mala und Charles fahren nach Brüssel und schauen sich dort eine Wohnung an, die als Unterschlupf in Frage kommt. Sie liegt im Stadtteil Sint Joost, unweit des Botanischen Gartens. Rue de la Poste 9 lautet die Deckadresse. Obwohl ihre Mutter Vorbehalte gegen einen Umzug in eine fremde Stadt äußert, entschließt sich Mala, die Anmeldung in Brüssel zu beantragen. Doch aus dem Umzug wird nichts: Noch während der Vorbereitungen zum Untertauchen, buchstäblich mit der Meldebescheinigung in der Hand, wird Mala Zimetbaum festgenommen.

Belgien 1942: Anmeldepflicht für Personen jüdischer Herkunft Markierung von Ausweispapieren. Verfügungsverbot für Immobilien. Kennzeichnung aller jüdischen Unternehmen. Berufsverbot im öffentlichen Dienst. Anmeldung aller Vermögenswerte, Beschlagnahme von Rundfunkgeräten. Segregation des Schulwesens. Sperrgebiete, Sperrstunden. Anordnung zum sichtbaren Tragen eines gelben Sterns mit der Aufschrift "Juif/Jood". Durchsuchungen. Arbeitseinsatzbefehle. Festnahmen ... In seinem jährlichen Tätigkeitsbericht bezeichnet der deutsche Militärbefehlshaber die Maßnahmen gegen Juden in Belgien als abgeschlossen: "Die Juden haben nur noch äußerst beschränkte Lebensmöglichkeiten."

"Ich sehe Mala immer noch vor mir", schildert Jochka den letzten Besuch ihrer Schwester; "sie haben Fahrräder gehabt, sie und ihr Charles — mit Holzfelgen; es war ja Krieg. Also die beiden sind mit dem Fahrrad losgefahren, und ich habe ihnen durch das Fenster nachgeschaut. Und Mala hat sich noch umgedreht und mir mit einer Hand zugewunken. Bloße Füße hat sie gehabt, mit Holzschuhen an. Das war der lerne Tag, an dem ich Mala gesehen habe."

Juli 1942: Entgegen den Behauptungen des Militärbefehlshabers sind die Maßnahmen gegen die Juden in Belgien keineswegs abgeschlössen. Da abzusehen ist, daß bei weitem nicht alle Betroffenen dem Befehl, sich zum Arbeitseinsatz zu melden, folgen werden, führt die SS in der zweiten Jahreshälfte systematisch Razzien durch. Sicherheitspolizei, Sicherheitsdienst und Feldgendarmerie nehmen im Verlauf dieser Razzien mehrere tausend jüdische Einwohner willkürlich fest.

Das Untergrundjournal "Belgie Vrij" berichtet von einer Festnahmeaktion am 22. Juli 1942. An jenem Mittwoch "machte die Feldgendarmerie in den elektrischen Zügen zwischen Brüssel und Antwerpen Jagd auf Juden. Alle Juden, Frauen wie Männer, wurden bei Ankunft der Züge in Lastwagen verfrachtet und abtransportiert." Bei den etwa 200 Festgenommenen handelt es sich meist um Pendlerinnen oder Pendler auf dem Heimweg von ihrer Arbeitsstelle. Unter den Personen, die bei dieser Aktion festgenommen werden, ist auch Mala Zimetbaum. "Wir wurden beide bei unserer Ankunft in Zentralbahnhof von Antwerpen verhaftet", erinnert sich Eva Fastag an jenen Tag. "Also war ich damals Sekretärin in Brüssel. Ich kam von meiner Arbeit — das war zwischen halb sieben und sieben abends — und da waren absperrungen. Alle, die aus dem Zug ausstiegen, mußten dann durch ein Lokal in der Nähe des Bahnsteigs und ihre Papiere zeigen. Die, die offensichtlich Juden waren,  weil sie einen Stern trugen oder keine anderen Papiere hatten, wurden gleich festgenommen; die anderen wurden durchgelassen. Ja, da waren wir einige hundert an diesem Abend; ich war eine von vielen."

Juli 1942: In Mechelen, auf halbem Wege zwischen Antwerpen und Brüssel gelegen, wird die General-Dossin-Kaserne zum zentralen Sammellager für die Juden des Landes umfunktioniert. Triste dreistöckige Gebäude mit kleinen, vergitterten Fenstern; ein großer Innenhof; ein Bahnanschlußgleis. Das Sammellager untersteht der Brüsseler Dienststelle des Beauftragten der Sicherheitspolizei, SS-Sturmbannführer Ernst B. Ehlers  Kommandant des Sammellagers ist SS-Sturmbannführer Philipp J. Schmitt vom Fort Breendonk.

Die Festgenommenen werden unter Bewachung in einem Lastwagen nach Breendonk gebracht. Das Fort ist zu dieser Zeit mit etwa 160 Gefangenen belegt. "Die Aufnahme in Breendonk war schon vorgesehen", versichert Eva Fastag. "Man hat uns alle Papiere abgenommen. Dann gab es da Säle mit Pritschen, dreistöckig. In meinem Saal waren ungefähr hundert Frauen und Mädchen. Natürlich durften wir nicht raus. Und es gab einen Kübel im Saal; am anderen Ende war das Fenster. Ich hatte meine Pritsche am Fenster; da war die Luft etwas besser als in der Nähe des Kübels. Und Hunger hatten wir natürlich. Ich zum Beispiel hatte nur eine Tasche mit; ich hatte nur zum Mittagessen etwas mitgenommen. Wir haben fast nichts zu essen bekommen; nur ein Stuck Brot für den ganzen Tag, und etwas Wasser als Kaffee und zum Mittag Wasser als suppe und abends wieder Wasser."

Während dieser Zeit geht es wohl den meisten Gefangenen so wie Eva Fastag: "Meine größte Sorge war damals: Wie benachrichtige ich meine Eltern? Ich wußte, daß die schrecklich besorgt sein würden. 

Abb. 14: Gefangene in Fort Breendonk (ca. 1942).

Die ganze Zeit habe ich gefragt " Darf ich meine Eltern benachrichtigen? Darf ich meine Eltern benachrichtigen?" Natürlich hat man mir das verboten." Auch die Eltern von Mala Zimetbaum bleiben in diesen Tagen ohne Nachricht von ihrer Tochter.

Sommer 1942: Infolge der zahlreichen Festnahmen im Zusammenhang mit den Razzien in den größeren Städten, aber auch auf grund der Einberufung von belgischen Staatsangehörigen zu Zwangsarbeiten kommt es im Land zu offenen Widerstandsaktionen. Auf eine Reihe von Sprengstoffanschlägen, die sich meist gegen Kollaborateure richten, reagiert die deutsche Militärverwaltung mit der Erschießung von Geiseln.

Auf einige der Festgenommene wartet eine besondere Aufgäbe."Jeden Tag wurde die Tür geoffnet, und da kam ein SS-Mann an die Tür und nahm drei, vier oder fünf Frauen, die an der der Tür standen, zur Hilfe in der Küche. Die Frauen kamen dann immer mit etwas Essen zurück. Am Samstag wurden wieder einmal die Mädchen für die Küche ausgesucht, und dann fragte einer: "Wer von euch spricht deutsch? Wer kann Schreibmaschine?" Wir standen da am Fenster und haben Bedacht, vielleicht müßten wir etwas auf der Maschine schreiben und bekämen dafür ein Stück Brot oder so. Elf von uns haben sich gemeldet; man hat unsere Namen notiert." Neben Eva Fastag melden sich Anna Lande, Clara Sander, Edith Silbermann und sieben andere, darunter auch Mala Zimetbaum. Eva Fastag fährt fort: "Das war am Samstag. Sonntag geschah nichts. Am Montag gegen halb zwölf wurden wir, die elf Frauen und Mädchen, gerufen. Wir wurden in einen Lastwagen eingeladen. SS-Leute begleiteten uns, und wir fragten die ganze Zeit: "Wohin führt ihr uns?" Natürlich haben die nicht geantwortet." Die SS-Leute bringen Mala Zimetbaum und die übrigen zehn Frauen an diesem 27. juli in das fünfzehn Kilometer entfernte Mechelen, Dort wird an diesem Montag die Dossin-Kaserne als zentrales Sammellager für die zum Arbeitseinsatz Einberufenen eröffnet.

"Arbeitseinsatzbefehl (Nummer). Herrn/Frau/Fräulein (Name, Geburtsdatum, Adresse). Mit sofortiger Wirkung gelangen Sie zum Arbeitseinsatz. Sie haben sich daher am {Datum) bis (Uhrzeit) in dem Sammellager Mechelen -Dossin-Kaserne-, Lierschesteenweg, einzufinden ... Es wird Ihnen ausdrücklich untersagt, bei irgend­welchen deutschen oder belgischen Behörden oder Einzelpersonen Einspruch gegen diesen Befehl zu erheben ... Falls Sie sich im Sammellager nicht zu dem vorgeschriebenen Zeitpunkt melden, erfolgt Ihre Festnahme und Versendung in ein Konzentrationslager nach Deutschland und die Einziehung Ihres gesamten Vermögens, im Auftrage: Ehlers."

"Wir wurden in einen sehr großen Saal gebracht. Am Ende des Saals war eine ganze Gruppe von Männern. Nur Männer. Wir wußten nicht, was die Männer dort taten; man hat uns verboten, mit ihnen zu sprechen. Dann sind die SS-Leute zum Mittagessen gegangen. Ein, zwei bleiben da, um uns zu beaufsichtigen, bis die SS-Leute zurückkamen und Schreibmaschinen brachten, Tische hinstellten und uns Mädchen vor die Schreibmaschinen oder Tische hinsetzten und uns erklärten, was wir zu tun hatten. Wir mußten die Männer, die an uns vorbeikamen, registrieren. Die erste schrieb die Kartei­karten; ich war die zweite, ich schrieb die Listen." In der erstenten müssen, weil es viele Festnahmen gab und, natürlich, alles sofort erledigt werden mußte.

Bei der Einlieferung in das Sammellager müssen die zum Arbeitseinsatz Einberufenen Wertsachen und Gepäck abgeben: sie werden durchsucht und klassifiziert, '"Transportjudeni", "Zigeuner", "Belgier", "Lagerpersonal", und "Sonderfälle", - so lauten die Bezeichnungen der Kategorien. Sie sind entscheidend für die Reihenfolge des Abtransports. SS-Sturmbannführer Kurt Asche, als Judenreferent der Polizei in leitender Position in Brüssel wie auch in Meche/en tätig, spricht unterdessen allerdings nicht mehr von „Arbeitseinsatz", sondern von "Evakuierung".

Die zum Arbeitseinsatz Einberufenen werden in großen Sälen im Obergeschoß des Sammellagers einquartiert. In einem Interview mit der Journalistin Lea Rosh schildert Rosa Goldstein die Bedingungen, unter denen sie in Mechelen auf ihren Abtransport warten mußte. "Frau Goldstein, bitte beschreiben Sie mir, wie das hier aussah. Sie haben alle in diesen Räumen geschlafen, Männer und Frauen"? "Ja, Männer, Frauen und Kinder. Es war sehr eng. Die Toiletten und Waschräume waren unten, zwei Stock tiefer. Wir haben auf dem Fußboden geschlafen; es war nicht geheizt. Nachts waren Kontrollen durch die SS. Es gab auch kein warmes Wasser. Wir mußten uns nackt waschen, und auch dabei waren oft SS-Kontrollen. Wehe, wenn jemand etwas anbehalten hatte. Diese körperlichen Untersuchungen hier — ich mußte mich nackt ausziehen, und ein Soldat hat mit einer Taschenlampe überall hineingeschaut, überall, man hat sich bücken müssen — das war das Schlimmste für mich". "Sie meinen, diese Erniedrigung"? "Ja, diese Erniedrigung".

Juli 1942: Die Militärverwaltung macht Bedenken gegen den geplanten Abtransport von 10.000 Juden aus Belgien geltend. Da die juden weitgehend in den Wirtschaftsprozeß eingebunden seien und Juden belgischer Staatsangehörigkeit in der Öffentlichkeit als Belgier angesehen würden, würden zunächst Personen mit nicht belgischer staatsangehörigkeit zum Abtransport ausgewählt werden. Damit könne "das Soll erreicht" werden.

Die Razzien gehen weiter. Tagsüber wie nachts sind deutsche und flämische Patrouillen unterwegs, um Juden festzunehmen; auch Spitzel werden eingesetzt. "Es war entsetzlich. Das kann sich kein Mensch vorstellen", sagt Jochka. "Unten im Haus war ein Geschäft, da hatten sie Kaffee und Kakao verkauft, aber die Frau war schon längst weg. Und dann sind sie gekommen: " Raus! Raus! Kaffee - wo ist der Kaffee? Wo ist Schokolade?" Und Mama - Sie war damals sechzig Jahre alt - hat gesagt: "Ich weiß nicht, ich bin nie unten gewesen. Ich werde suchen, vielleicht habe ich ein bißchen Kaffee da. Dann sind sie nach oben gekommen. Wir haben sie gesehen, Vater und ich. Er hat schrecklich geweint. Die Deutschen - das muß ich dazu sagen — haben vielleicht noch ein wenig Mitleid gehabt. Fünf Mal haben sie gesagt: "Ach, seien Sie nur ruhig, wir gehen schon." Aber die flämische SS ... Fünf  Mal, und jedesmal sind wir dann wieder zusammen gewesen, Mama, Papa, das kleine Herschele und ich, und haben uns  umarmt und geküßt, gelacht und uns gefreut, daß wir davongekommen sind. "Na, und wie lange noch?" sagte Papa; "und wie lange noch?"

Beamte des  'Devisenschutzkommandos' der Sicherheitspolizei stellen das gesamte Vermögen der Festgenommenen sicher. Im Rahmen einer sogenannten "Möbelaktion" durchsuchen Mitarbeiter des Sicherheitsdiensts die Wohnungen der Festgenommenen. Die Einrichtungsgegenstände werden beschlagnahmt, nach Deutschland transportiert und der bombengeschädigten Zivilbevölkerung zur Verfügung gestellt, in den leerstehenden Wohnungen will die deutsche Wehrmacht Besatzungssoldaten unterbringen. Da dieses Vorgehen in der belgischen Bevölkerung beträchtliche Unruhe hervorruft, versucht die Militärverwaltung, die Aktion ohne großes öffentliches Aufsehen durchzuführen

Eva Fastag äußert sich überaus positiv über ihre Kämeradin Mala Zimetbaum: "Während unseres gemeinsamen Aufenthalts in Breendonk und in Mechelen habe ich schon feststellen können  wie sehr Mala ihre Mitgefangenen kümmerte und sich für sie einsetzte. Woran ich mich genau erinnere: Wir hatten Schwierigkeiten, unsere Wäsche zu waschen und wir haben unsere Wäsche damit dann sehr schnell gewaschen und irgendwo im Saal getrocknet. Und sie hat noch - ichweiß nicht, wie sie das gemacht hat —, sie hat einen Ort gefunden und ein Bügeleisen, und sie hat dort unsere Sachen gebügelt. Sie war sehr geschickt, erledigte immer viel Aber sie half auch anderen. "Dabei ist es vorteilhaft, daß Mala auch außerhalb des Saals, in dem sie untergebracht ist, zu tun hat. Nach einiger Zeit gelingt es den Frauen, die in der Registratur arbeiten, heimlich, Nachrichten aus dem Sammellager herauszuschmuggeln.

1942: Täglich treffen etwa 250 Personen im Sammellager in Mechelen ein, wo sie auf ihren Weitertransport warten müssen. Zur Abwicklung der "Umsiedlung" hat das RSHA von der Deutschen Reichsbahn Sonderzüge angemietet. Die RSHA - Transporte werden als Personenbeförderung verbucht, die Passagiere jedoch wie Güter behandelt. Das Entgelt pro Person und Schienenkilometer beträgt vier Reichspfennig, wobei man Kinder zum halben Preis und Kleinkinder kostenlos befördert. Für Transporte mit mehr als 400 Menschen hat die SS Pauschaltarife ausgehandelt. Bei den ersten Transporten aus Belgien setzt man Personenzüge, später Güterwaggons ein.

"Zehn Tage später kommt ein Junge", berichtet Jochka, "ein ganz junger Bursche, der viel für unsere Mala übrig gehabt hat. Der hat dort in Mechelen im Büro gearbeitet. Er bringt eine Streichholzschachtel mit Lebensmittelkarten, und darauf geschrieben etwas von Mala: "Mama, ich bin jetzt in Mechelen, ich schreibe im Büro, und es gehl mir gut." Und beigelegt hat sie verschiedene  Schmuckstücke.  "Bitte bring  dies  zu Frau Soundso in die Wipstraat, das in die Somerstraat" und so weiter. Und Mutter ist losgegangen — spät abends an Sonntagen, weil die Deutschen dann nicht so kontrolliert haben — und hat all die Sachen hier und dort abgegeben. Und wenn sie alles zurückgegeben hatte, war sie überglücklich. "Gelobt sei Gott", hat sie gesagt — meine Mutter war ein sehr fromme Frau — "Gott sei Dank, daß ich die Leute gefunden habe. Zuerst wollten sie mich nicht hereinlassen ...". Und das ging so mehrere Monate. Solange Mala auf dem  büro in Mechelen geschrieben hat, ist der Junge immer wieder zu uns gekommen.

Belgien 1942: Am 4. August verläßt der erste RSHA-Transport das Land. Grundbedingung ist, so die Dienstvereinbarurng, daß die abzutransportierenden Juden zwischen 16 und 40 Jahre alt sein müssen; zehn Prozent nicht Arbeitsfähige könnten mitgeschickt werden. Bereits mit dem ersten Transport wird diese Dienstvereinbarung unterlaufen: Unter den 998 Deportierten dieses Transports sind 140 Kinder unter 16 Jahren.

Infolge ihrer Tätigkeit in der Registratur des Sammellagers gelingt es Mala Ztmetbaum offenbar, ihre beiden kleinen Neffen Max und Bernard vor dem Abtransport zu bewahren. Jochka weiß zu berichten, Max und Bernard Cymetbaum - der Fünfjährige wird auch 'Bubi' gerufen — seien bei einer Razzia im jüdischen Waisenhaus festgenommen und nach Mechelen verschleppt worden. "Am anderen Tag kommt eine deutsche Frau vom Personal des Büros {im Sammellager) mit den beiden Kindern (in die Marinisstraat). Die Kinder kommen herauf und rufen: "Bonmama, Bonpapa, wir sind zurück!"" Maxie erzählt, Tante Mala habe sich um ihn und Bubi gekümmert und dafür gesorgt, daß sie wieder nach Hause durften. Auch die Deutsche geht nach oben in die Wohnung; sie bringt Brt und andere Lebensmittel für die Familie Zimetbaum mit.

Umfang und Ziel der Deportationstransporte sollen geheim bleiben: Entsprechend den Weisungen des RSHA erstellt die Verwaltung des Sammellagers eine Liste mit den Namen der zur Deportation bestimmten Personen. Je eine Kopie dieser Transportliste erhält die Lagerregistratur, die vorgesetzte Dienststelle und die aus Deutschland angereiste polizeiliche Zugbegleitung. Die Verwaltung des Sammeliagers unterrichtet das RSHA in Berlin telegraphisch von der Abfahrt eines Transports; die Behörde meldet ihrerseits dem Bestimmungsort die bevorstehende Ankunft des Zuges.

Giza Weisblum, die Nichte von Malas Schwager Isak, berichtet im September 1942 habe Mala ihrem Verlobten Charles eine Nachricht aus dem Sammellager übermitteln lassen, in der sie ihrn Fluchtpläne mitgeteilt und ihn um seine Unterstützung gebeten habe. "Sie hatte sich über Zahnschmerzen beklagt und hatte die Erlaubnis bekommen, von der Kaserne, wo sie einquartiert war, unter der Begleitung eines SS-Officier in die stadt zum Zahnarzt zu gehen. Charles sollte dort warten und ihr bei der Flucht helfen." Mala Zimetbaum kann ihren Plan, aus dem Sammellager Mechelen zu fliehen, jedoch nicht verwirklichen.

Abb. 15: Vor der Deportation -
Juden im Sammellager Mechelen (ca. 1942)

1942: Von Mechelen deponiert werden am Dienstag, dem 11. August 407 Männer, 445 Frauen und 147 Kinder; am Samstag, dem 15. August 342 Männer, 486 Frauen und 172 Kinder; am folgenden Dienstag, dem 18. August 337 Männer, 374 Frauen und 287 Kinder; am Dienstag, dem 25. August 363 Männer, 400 Frauen und 232 Kinder; am darauffolgenden Samstag 332 Männer, 483 Frauen und 179 Kinder; am Dienstag, dem 1. September 269 Männer, 387 Frauen und 344 Kinder; am Dienstag der darauf­folgenden Woche 376 Männer, 386 Frauen und 238 Kinder; und vier Tage später, am 12. September, 399 Männer, 373 Frauen und 228 Kinder unter 16 Jahren.

Der 12. September 1942 ist der jüdische Neujahrstag. An diesem Wochenende wird ein weiterer Deportationstransport zusammengestellt. Im Verlauf einer zweitägigen Großrazzia in Antwerpen nehmen Angehörige der flämischen SS und der Feldgendarmerie am Freitag 682 und am Samstag 740 Personen fest. Die Verhafteten werden zusammengetrieben und unter Bewachung in verschiedenen Kinosälen, Schulen oder Sporthallen festgehalten. Mit Armeelastwagen bringt man die Festgenommenen anschließend in Gruppen von zwanzig bis dreißig Personen nach Mechelen, wo sie in das Sammellager eingeliefert und registriert werden.

Die Züge aus Belgien fahren im allgemeinen über Aachen, das Ruhrgebiet, durch Sachsen und Oberschlesien nach Osten. Sie bestehen meist aus fünfzehn Waggons für Personen und fünf für Gepäck. In der Mitte wird ein Personenwagen zweiter Klasse für die sechzehnköpfige Begleitungsmanshaft mitgeführt. Für die Reichsbahn sind die RSHA-Transporte durchhaus rentabel, da so auch varaltete Lokomotiven und Waggons noch Erträge einbringen. Die Züge fahren langzam; oft werden sie über Nebenstrecken geleitet und müssen lange Wartezeiten in Kauf nehmen.

Am Montag, dem 14. September umfaßt die Transportliste 1.048 Namen; 383 Männer, 401 Frauen und 264 Kinder (151 Jungen und 113 Mädchen unter 16 Jahren}. Damit ist das vereinbarte Kontingent von 10.000 Personen überschritten. Diesmal werden auch Gefangene mit Dauerfunktionen in der Verwaltung des Sammellagers in die Deportationsmaßnahmen einbezogen. "Von Zeit zu Zeit", berichtet Eva Fastag, "stellte man uns in eine Reihe - du bleibst, du gehst auf Transport, und so weiter. Das geschah willkürlich, aber doch mit gewissen Gründen. Man brauchte diese oder jene Person nicht mehr, oder man dachte, die ist nicht loyal." Am Dienstag steht ein Sonderzug auf dem Anschlußgleis des Sammellagers bereit. Die zum Abtransport vorgesehenen Männer, Frauen und Kinder werden in Gruppen zu den Waggons dritter Klasse geführt und darin eingeschlossen. Mit dem zehnten RSHA-Transport aus Belgien wird an diesem 15. September auch Malka Zimetbaum, laufende Nummer 999, nach Osten deportiert. "Arbeitseinsatz", besagt der blaue Stempel auf ihrer Karteikarte.

An jenem 15. September schreibt der deutsche Militärbefehlshaber in seinemviertel/ährlichen Tätigkeitsbericht über die Deportationen: "Die Aktion wurde zunächst a/s Arbeitseinsatzmaßnahme durchgeführt und erstreckte sich daher vor allem auf arbeitseinsatzfähige Juden und Jüdinnen. Erst auf Grund späterer Weisungen des Reichssicherheitshauptamts erhielt sie den Charakter einer allgemeinen Evakuierung der Juden, so daß  daher in letztet Zeit auch nicht voll arbeitsfähige Juden abtransportfeit werden."

Samuel van den Berg, prominenter Funktionär der Vereinigung der Juden in Belgien, schildert in seinem Tagebuch die Bedingungen, unter denen die Deportationen aus Mechelen später stattfinden: "Man hat uns gestern angekündigt, daß ein neuer Judentransport Mechelen am Sonntag oder Montag verlassen wird. Der Transport wird diesmal in Güterwagen durchgeführt, in die Bänke kommen, einige Matratzen für die Alten und Stroh für die anderen. Ein Eimer zum Trinken und einer für das Gegenteil. Die Türen werden mit Hilfe von Stacheldraht verriegelt, um eine Flucht zu verhindern. Wir haben uns eingesetzt, damit man wenigstens die Kinder ohne Eltern und die Alten hierläßt." Diese Umstände machen auch die Deportierten mißtrauisch. Rosa Goldstein: "Die hygienischen Zustände, mit nur zwei Kübeln pro Waggon, fast keine Luft, kein Platz, sich hinzulegen oder zu setzen, Kinder, Kranke ... Von diesem Moment an habe ich mir gedacht, da stimmt was nicht."

Insgesamt werden im Laufe des Zweiten Weltkriegs mindestens 50.000 Menschen - etwa die Hälfte davon Juden — aus Belgien in Konzentrationslager verschleppt. Anhand der Transportlisten, die im Archiv des belgischen Justizministeriums erhalten sind, läßt sich nachweisen, daß von 1942 bis 1944 in 33  RSHA-Transporten insgesamt 25.475 Personen, darunter zwanzig Prozent Kinder unter 16 Jahren, von Mechelen aus deportiert worden sind. Fast alle der von Mechelen aus Deportierten (22.257 Personen) sind nach Auschwitz gekommen; fast alle (25.124 Personen) sind Juden. Im Durchschnitt ist nach dem Krieg nur einer von zwanzig deportierten Juden zurückgekehrt. Von den 1.048 Deportierten des zehnten RSHA-Transports haben nur 17 Personen überlebt.

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