Willy Sel, Zeitzeugen-Interview
geführt am 5.5.1997 in München

Haus der Bayerischen Geschichte, Zeitzeugen-Projekt
Zeuggasse 7; 86150 Augsburg Tel.: 0821 / 3295-0
zeitzeugen@hdbg.bayern.de
 

 Korte inhoud Willy Sel   Video Willy Sel (uittreksel)

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Inhalt

Kurzportät
Wortprotokoll

Elternhaus in Belgien
Verhaftung 1941
Als NN-Häftling in Deutschland
Häftling in Sachsenhausen und Natzweiler
Deportation nach Dachau 1944
Im Außenlager Allach
Krematorium und Gaskammer
Typhusepidemie
Die Befreiung
Heimkehr

Kurzporträt von Willy Sel:

Willy Sel, 1921 in Mechelen in Belgien geboren, beteiligte sich nach dem Einmarsch der deutschen Truppen 1940 in der königlichen Widerstandsgruppe. 1941 wurde er vom S.D. verhaftet, von der Gestapo verhört und gefoltert, in die Gefängnisse nach Lübeck und Essen gebracht und schließlich vom Reichskriegsgericht in Berlin wegen Hochverrat verurteilt. Als KZ-Häftling kam er 1943 nach Sachsenhausen und Natzweiler-Struthof und im September 1944 nach Dachau. Es gelang ihm, unter falscher Identität im Außenlager Allach zu arbeiten und entkam nur knapp dem Tod.

Wortprotokoll des Zeitzeugen-Interviews mit Willy Sel

Frage: Herrn Sel, können Sie kurz Ihre Herkunft schildern, also Ihr Elternhaus in Belgien und Ihre Jugendzeit bei den Pfadfindern?

Sel: Mein Name ist Sel, Wilhelm, aber in Flämisch man hat immer gesagt Willy. Ich hatte eine sehr schöne Jugend, mein Vater der war ein Kriegsverletzter von 14/18, sehr schwer kriegsverletzt, weil er war dreimal kaserniert worden, von was wir yperit nennen und hat immer erzählt über den Krieg 14/18 und auch zusammen damit hat er so einen Haß gegen die Deutschen mitgemacht. Die Frau von einem Bruder von meinem Vater, also mein Onkel, der hat angebandelt in 14/18 bei der Besatzung von Mechelen mit einem deutschen Mann, der bei der Eisenbahn arbeitete und ist mit ihm 1918 nach Deutschland gefahren. Mein Onkel, der ist zurückgekommen und hat sofort die Scheidung angefragt und ist verschwunden nach Afrika. Ich glaube, daß mein Vater immer gesagt hat, der ist getötet worden in der Fremdenlegion in Algerien. Inzwischen bin ich dann älter geworden und da bin ich zu den Pfadfindern gegangen, zu den kleinen, wir nennen das die Wölfe und später zu den Scouts. Da habe ich den ganzen hierarchischen Weg mitgemacht vom Patrouillenleiter bis Hilfspatrouillenleiter und dann später Scouts-Leiter.

Aber inzwischen will ich Ihnen etwas erzählen, was mir immer geblieben ist: Jedes Jahr in den Ferien, Juli und August, im Juli kam meine gewesene Tante, die verheiratet war mit einem deutschen Mann, der heißt Rudolf Kregel und Rudolf Kregel war ein ganz großer Mann geworden bei der Eisenbahn und die haben zwei Kinder gehabt, Maria Kregel und Hansi Kregel. Hansi Kregel hat ein bißchen ein schlechtes Auge gehabt, der hat ein bißchen schief geguckt. Und die kamen immer nach Belgien im Juli zum Urlaub an das Meer in Belgien. Nachher bin ich dann im August mitgefahren nach Deuschland, Osnabrück und Lehrte. Und in Lehrte da habe ich was mitgemacht. Da war der Hansi, der war bei der Hilterjugend, ich wußte damals nicht, was das war, ich dachte das war so etwas wie bei und bei den Pfadfindern und da ist der nach Hause gekommen und haben die geschrien „Heil Hitler“ usw. Habe ich gesagt: „Bist du verrückt? Bist du auch mit dabei?“ - „Ja, ich bleibe dabei!“ und da bin ich auf die Straße gekommen und da ist die ganze Bande zu mir gekommen und haben mich gegen den Grund geschmissen und geschlagen und gestampft, habe ich gesagt: „Nein, ich komme nicht mehr nach Deutschland.“ Und später ist es dann so gekommen, daß der Hansi operiert worden war an seinem Auge, schön recht gesetzt, zur Kriegsmarine gegangen und torpediert mit der Emden. Das wußte ich nur später.

Also dann ist der 10. Mai gekommen und die belgische Regierung hat alle - ja, da war die Mobilisation, war eine Lächerlichkeit, zum Spielen für die alten Männer, aber sie sind dann sofort nach 18 Tagen überfallen und ausradiert (worden). Also die ganze belgische Jugend von 16 Jahren bis 35 Jahren sollte sich melden in Ypern und später in Südfrankreich. So bin ich in Südfrankreich gewesen, habe ich probiert, nach England zu fahren über die Pyrenäen, bin ich bei der Guardia Civil in Spanien festgenommen worden. Die haben nach Geld gefragt und so konnte ich nach Lissabon gehen. Ich habe mich geweigert, die haben mich zurück über die Grenze gesetzt in Toulouse. Toulouse war Gestapo schon anwesend, von Toulouse nach Compiégne, zwei Monate in einem Lager gesessen und dann wieder zurück nach Hause, weil ich noch Student war, hat man mir gesagt, ich sollte mich jeden Tag um acht Uhr melden in der Ortskommandantur. Aber das habe ich nicht machen wollen und dann sind wir mit jungen Studenten zusammengekommen, haben wir eine Widerstandsgruppte aufgerichtet. Die Widerstandsgruppe war die Nationale Königliche Bewegung, weil wir sind königlich, Belgien ist königlich und national und wir waren Patrioten und dann haben wir von England die Unterrichtung gekriegt, wir wollten Sabotage pflegen und Bombenanschläge usw. Das haben wir gemacht, wir haben das Flugzeugwerk in Belgien haben wir sabotiert, wir haben die ganze Flak-Installation in Mechelen, die ganze Falk-Installation auf Plänen gesetzt, die sind nach England geschickt worden, weil die Engländer, die suchten einen Weg zum Zurückkommen, wo am wenigsten Flakgeschütze waren. Und dann haben wir auch Bomben fabriziert. Bomben, ja wir waren Studenten, wir konnten das nur ein bißchen, da sind Bomben zu früh gesprungen (explodiert), wir haben da Verletzte und Tote gehabt und auf einmal hatten durch Verrat, ein Spitzel hat uns dann unsere Namen übertragan an die Kommandantur und wir sind verhaftet worden.

Frage: Wann war das?

Sel: Ich bin verhaftet worden, wir sind verhaftet worden am 27. August 1941. Da ist ein KZ in Belgien, nicht weit von Mechelen, Überbringung nach Antwerpen, Strafan-stalt Antwerpen, da sind die, die schlimmsten Sachen passiert, der Della Faillelaan. Della Faillelaan, das war das Hauptquartier von der Gestapo, Geheime Staatspolizei und wir sind verhaftet worden durch Sicherheits-Dienst, S.D. Also da sind wir geschlagen worden, gefoltert, z.B. ich nenne mal nur eine Sache: Wir sollten die Namen sagen von unseren Freunden, von unseren Kameraden, die bei uns waren Mitglieder, wir sollten sagen, wo wir Bomben gelegt hatten, wir sollten sagen, wo die Pläne waren von der Flak, von wem den Bericht gekriegt hätten, all diese Sachen zu machen. Deswegen sind wir gefoltert worden. Ein Beispiel: Meine vier letzten Backenzähne, die haben die leicht ausgerückt, leicht, nicht ganz und dann haben die das so gelassen. Ich konnte nicht mehr essen, das war schrecklich, schreckliche Schmerzen und da sind noch viele andere Sachen gemacht worden. Ich spreche nicht gerne darüber, weil ich habe immer probiert, das alles hinter mir, so weit wie möglich wegzudrängen.

Dann sind wir in Antwerpen, in die Strafanstalt in Antwerpen sind da zwei von unseren Freunden, Kameraden von unserer Gruppe, wir waren 30 dort noch, von der Gruppe sind fliehen gegangen und nach diesem Moment, da haben die gesagt: Jetzt gehen die alle nach Deutschland und dann sind wir nach Lübeck abtransportiert (worden), aber wie! Wir hatten diese Handschellen an und schrecklich, das war eine schreckliche Reise, alle diese Reisen waren schrecklich damals, aber das war schrecklich, mit Handschellen, eine Handschelle hier und die andere Handschelle am Bein. So konnte man die ganze Zeit sitzen. Und man konnte nicht austreten, überhaupt nichts. Da sind wir am 6. Januar 1942 sind wir angekommen in Lübeck. Lübeck-Lauerhof, Besenkampf war auch eine Strafanstalt, und dort haben wir am 27. Januar 1942 haben wir einen Brief empfangen, das wir unterzeichnen und schreiben sollten worin stand, daß wir Paket- und Briefverbot hatten. Also das war unserer erster Bericht, daß wir NN, „Nacht- und Nebel(-Häftlinge)“ waren, nicht. Seitdem haben wir nie schreiben oder Pakete gekriegt oder Neuigkeiten von Zuhause gehabt. Und dann ist, ich weiß nicht mehr an welchem Datum, aber es war Februar oder Anfang März, ist Lübeck bombardiert worden, war ganz ausradiert. Was wir da gemacht haben in Lübeck, das war arbeiten, aber die Arbeit, die wir machten, das war Sabotage. Wir mußten Munition, Munition, die Hülsen, die Kartuschen von der Munition in Kupfer mit einem Drehring kontrollieren auf das Kaliber und Kaliber 7,35 dorthin, 7,65 dorthin, 7,85 dorthin. Also 7,35, da gingen 7,85, 7,65 gingen 7,35. Da sind sie darauf gekommen, haben uns ausgefragt, sind wir bestraft worden, wie haben Bunker gekriegt, Dunkelzelle und das war „zum Himmel stinkende Sabotage“, nannten sie das damals und dann sind wir verlegt worden nach Essen und in Essen sind wir dann auch noch in Einzelhaft geblieben, haben wir auch Arbeit gekriegt, haben wir Schnallen und Strippen nähen müssen auf die Gamaschen für die Soldaten an der Ostfront. Haben wir auch wieder sabotiert, wir die Schnallen und die Strippen anders heraufgesetzt, nicht usw. Dann sind wir da auf einmal mit drei rausgekommen und sind in eine Polizeibaracke, eine SS-Polizeibaracke in diesem Tal, Margarethental, ich weiß nicht genau, da sind wir da hingegangen und haben wir eine oder zwei Wochen dort geblieben und nachher mit einem Zellenwagen nach Altona, Hamburg-Altona geführt, von dort nach Wolfenbüt-tel. Zwei, drei Wochen Wolfenbüttel und sofort nach Alexanderplatz in Berlin, Reichskriegsgericht. Was wir da gemacht haben im Reichskriegsgericht? Das weiß ich nicht, wir waren, es stand drauf, auf unseren Zetteln stand drauf, warum wir verhaftet waren. Da stand drauf: Sabotage, Spionage und Hochverrat und genau wissen wir nicht, warum wir nach Reichskriegsgericht gekommen sind. Da sind wir einmal bei dem Zuschließer gewesen, habe ich gesagt: „Na, bitte, Herr Vorsitzender, ich bin Belgier und Sie verurteilen mich für Hochverrat, wie ist denn das möglich? Ich bin ein Belgier und liebe mein Vaterland. Wie kann ich dann Hochverrat pflegen gegen Deutschland?“ Und da ist der aufgestanden, der war in einer ganz roten Toga und mit so einer Mütze drauf, ist nahe zu mir gekommen und hat mir eine runterge-hauen, daß ich gegen das Geländer lag, war schrecklich. Und nach dieser Sitzung sind wir dann transportiert worden nach Sachsenhausen-Oranienburg. Sachsenhau-sen-Oranienburg, das war schrecklich. Wir dachten, das war das erste Mal, daß wir ein Konzentrationslager sahen. Wie das da losgegangen ist, glücklich waren da deutsche Gefangene, die schon Jahre da gesessen haben unter anderem war da der Otto Preuß, Preuß war schon das zweite Mal verhaftet, er war ein Kommunist. Aber er war ein ganz anständiger Kerl, der hat gesagt, was wir tun und nicht tun sollten im KZ. Er hat gesagt: „Geh nie an die Seite von einer Arbeitskolonne, die ausrückt. Wenn die ausrückt, nie die Seite nehmen, immer in der Mitte.“ Und da haben wir gesagt: „Warum? - Außenseite ist doch viel besser?“ - „Nein“, hat er gesagt, „weil“, da kam es wieder, „die SS, die war so sadistisch, daß sie die Mützen abnahmen von einem Jungen, der vorbeiging und dann wegwarf und dann: „Los, Mütze holen!“ Und wenn der dahinter lief und seine Mütze holte, hat er ihn niederge-schossen - Fluchtversuch! Und deswegen hat er das gesagt: „Nie an die Seite gehen, immer in der Mitte!“ und dann hat er auch gesagt: „Und wenn du den Ruf hörst: Dicke Luft! Paß dann bloß auf, arbeite mit den Augen! Und paß schön auf, was passiert.“ Dicke Luft konnte auch sein, daß das gerufen wird, wenn man in einem Kolonne, in einer Arbeitskolonne in der Mitte, daß einer vor oder zwei oder drei vorher Diarhö hatten und dann war das auch dicke Luft, mußte man aufpassen, daß man nicht eintreten sollte.

Da bin ich bei Vilicka gewesen im Kommando in Vilicka, nur zwei Wochen, wieder zurück, Vilicka ist in Polen und dann wieder zurück nach Sachsenhausen, bin ich im Desinfektionskommando gewesen in Ravensbrück im kleinen Frauenlager beim Männerlager. Aber drei, vier Wochen, dann bin ich krank gewesen, ich habe etwas getan, was ich nicht tun durfte. Ich habe eine falsche Meldung gemacht mit dem Pensum abwiegen vom Kupfer - Rekuperation in Klinker Speer. Da war eine Lore und der hatte nur vier oder fünf Kupfer gemacht, er sollte neun machen und ich habe runtergezogen und da hat der zehn Kilo gehabt. Da bin ich bestraft worden: 25 über den Arsch! Und zwei Monate Strafkompanie und nachher ist dann noch so viel passiert, habe ich bißchen mit Klinker Speer Fußball gespielt, eigenartig, aber das ist ja so, abends in Sachsenhausen, wenn man Zeit hat oder man die Lust hat oder man nicht herumläuft zum Organisieren für Essen, weil der Hunger war unser größter Feind, abends in der freien Zeit und da waren irgendwo in den Blöcken jemand, der konnte singen oder Piano gespielt und da konnte man hingehen. Auch die SS war dann die, die Sturmbannführer, Obersturmbannführer, Untersturmbannführer, die Rapportführer, die waren da, kamen und saßen und dann hatten die Gefangene da so eine Art Tournee gespielt und dann hatten die geklatscht und dann sind die wieder weggegangen. Das war in Sachsenhausen.

Nachher bin ich dann - nein, ich werde noch etwas erzählen, was passiert ist in Sachsenhausen: Ich war ein NN(-Häftling) und durfte nicht schreiben nach Hause. Also da war ein Pole und ein Spanier und die haben auf meine Adresse mit ihren Namen hinten geschrieben nach meiner Mutti, nach meinem Vater, aber die konnten nicht sagen, ich wäre es (gewesen). Sie konnten nur sagen: Ich habe meinem Bruder und es geht ihm gut und der war in einem anderen Kommando usw. Das konnten die schreiben. So meine Mutti, die hat dann ein Paket geschickt oder zwei Pakete, ich weiß nicht mehr, und die sind zurück gekommen bei den Polen, aber auch bei den, wie heißt den der Spanier, der Spanier, sein Name war Bicente Hernandez und der war eifersüchtig und der wollte die Hälfte von dem Paket, aber der Pole hat gesagt: „Nein, mein Junge, das ist nicht für dich!“ Und später habe ich das gehört, nicht, ich darf vielleicht nach dem Rapportführer gegangen, hat Spitzel gespielt und was ist dann los gewesen? Ja, das weiß ich nicht, das kommt später noch. Also dann sind wir abgefahren nach Natzweiler-Struthof. Natzweiler-Struthof, das war sehr schwer, ich dachte, ich war in einem Konzentrationslager, ich habe Angst in meine Hose getan und jetzt, das war dann wieder schrecklich. Da haben wir gesehen, auf einmal sechs Tote in fünf Minuten, die sind heruntergekommen von dem Steinbruch und ich war eingeteilt in Block 1 und glaubte, Block 1, der wird nicht nach Steinbruch gehen. Ich war im Steinbruchkommando und da war es schrecklich. Glücklicherweise hat es nicht lang gedauert, weil ich gut deutsch sprach, hat ein, war SS-Sturmbannführer und der mußte ein Kommando machen in Erzingen und der suchte, der suchte Franzosen, der suchte Holländer. Da hat er gefragt einen Holländer als Dolmetscher, aber der Holländer, der hat Holländisch gesprochen und konnte kein Französisch und da bin ich vorne gestanden, drei Schritte von Sturm-bannführer entfernt: „Mütze ab!“ Und habe mich gemeldet, gehorsamst. Da hat er gesagt: „Was ist los?“ Da habe ich gesagt: „Ich bin arbeitslos.“ - „Was“ hat der gesagt, das in einem Konzentrationslager, das gibt’s nicht. Das gibt’s nicht. „Was willst du?“ Und dann habe ich gesagt: „Ich bin Dolmetscher.“ Hat er gesagt: „Gut, dann gehen Sie mit.“ Und dann bin ich mit nach Erzingen gegangen. In Erzingen war ein Kommando von 200 Franzosen, Belgier und Holländer. Und da auf einem Tag, da war so am Anfang oder Mitte September 1944 standen wir da oben auf dem Tallud, wir nennen das eine Ebene, wo die Eisenbahnschienen lagen und da, wo die Eisenbahnschienen lagen, große Holzschienenbalken zur Unterstützung von der Eisenbahn und die lagen quer durcheinander und da war da oben ein SS-Mann, der war kein deutscher SS-Mann, der war vom Balkan. Er konnte überhaupt kein Deutsch und dann hat der gesagt, da war ein Waggon, der kam die Schienen entlang, da war kein Bremser darauf und der ging gerade in die Holzbalken hinein. Hat er gesagt: „Los, los, hole die Balken weg!“ Dann hat er sowas gebrüllt, aber ich habe ihn nicht verstanden, weil er kein Deutsch gesprochen hat. Dann hat er mit seinem Gewehr mit dem Kolben mit einen Schlag gegeben, runter vom Tallud gefallen, zwischen die Balken und in dem Moment, daß der Waggon da hineingefah-ren ist. Das war ein Mordversuch, nicht. Da hatte ich viele, viele Verletzungen und die Tibia gebrochen, Hände geborchen und die Schlagader übergeschnappt, das war schrecklich und da war ein Arzt, ein Franzose hat ein bißchen da zusammen gemacht, haben mich sofort auf Transport gesetzt nach Dachau und da bin ich in Dachau dann zurecht gekommen im Revier 3.

Frage: Wann sind Sie nach Dachau denn genau gekommen?

Sel: Also, das war der 26. Oder 27, September 1944. Ich habe gesehen auf der Liste steht 28. September, aber es war der 26. oder 27., ich weiß nicht, wie lange wir unterwegs waren. Das weiß ich nicht und sofort ins Revier 3 und da war ein polnischer Doktor, der Bienka, ich habe ihn gestern gesehen. Gestern und vorges-tern er war hier und naja, das ist etwas unbeschreiblich, wenn dann wir einander wieder sehen. Der Mann hat vielleicht mein Leben gerettet, mein Bein, mein Fuß, mein Bein, mein Leben. Er hat auch dafür gesorgt, daß ich den Transport nach Hartheim nicht mitgemacht habe. In Dachau habe ich dann im Rollwagenkommando, Lagerexpreß Moor, Moorexpreß, wir hatten alle Namen, und da waren wir so wie die Pferde eingespannt in den Wagen und haben gezogen von der Küche zu den Blöcken, von den Blöcken in die Küche, von den Blöcken mit Toten nach Krematori-um, Kaffee holen, Essen holen und alles, was zu holen anfiel. Und nachher ist ein Belgier, der war der Lagerläufer und das war, er hieß Brahan, Erie Brahan, er war von Brüssel. Und der ist zu mir gekommen und hat gesagt: „Heißt du Willy, Willy Sel?“ Habe ich gesagt: „Ja.“ - „Naja“, sagt er, „morgen wirst du aufgehängt.“ - „Was!“ habe ich gesagt: „Morgen, aufgehängt?!“ - „Jawohl“, hat der gesagt, das ist doch ein Witz. - „Ja, das war ein Witz?“ - „Nein, nein,“ sagt er, „ es ist kein Witz.“ Und dann bin ich dahinter gekommen, daß wegen des Spaniers in Sachsenhausen, der Spitzel gespielt hat für Essen zu haben aus dem Paket von dem Polen, gesagt hat, was passiert ist. Daß er geschrieben hat nach meinem Namen nach meinen Eltern. Und deswegen sind die dort in Sachsenhausen aufgehängt (worden) und ich sollte dann auch gehängt werden und dann hat der Pole, der war der Leszek Moniwsky, der wollte nicht mehr nach dem Krieg nach Polen gehen, weil er wollte nicht zu den Kommunisten gehen, er wollte nach England gehen. Hat er gefragt, ob ich ihm ein bißchen Englisch lernen konnte, habe ich gesagt: Ja, und da habe ich ihm ein bißchen Englisch gelernt und ich habe ein paar Worte Polnisch (gelernt). Sie haben gesucht für einen toten Belgier zu finden, aber den haben wir nicht gefunden, war ein toter Pole und der Pole hatte die Nummer 111.930 und ich 111.939. Das war nicht viel verschieden, er war auch ein junger und da habe ich gefragt den Lagerläufer: „Geh mal zurück zur Schreibstube, sieh mal, wofür der Pole verhaftet ist.“ Weil sonst werde ich nicht hängen für einen Polen, das ich nicht getan habe. Und da hat er gesagt: „Der ist leider ins KZ gekommen, weil er von einem Kriegsgefangenentrans-port übrig geblieben ist und deswegen ist er hier.“ Und ist hier gestorben. Und dann habe ich also seine Nummer von Hose und Jacke geholt und meine da aufgenäht und so konnte ich nicht mehr in Dachau bleiben, weil in meinen Block konnte ich nicht mehr gehen, konnte auch nicht in den Block von dem Polen gehen. Und dann bin ich da draußen geblieben die ganze Nacht, war sehr kalt und zwischen den Leichen, weil es war damals in der Zeit vom Fleckfieber, Typhus, tausende im Monat sind da gestorben, das Krematorium konnte nicht mehr, die Öfen konnten nicht mehr folgen und die Leichen sind da immer mehr und mehr geworden, aufeinander gesetzt worden, nicht? Und dann hat der Leszek Molinsky, der hatte eine Einfall und da hat er gesagt: „Hör mal gut zu, du gehst morgen nach Allach. Freilich habe ich einen Freund in Allach, Nowak, und der ist auf der Schreibstube und der wird für dich sorgen.“ Da habe ich gesagt: „Gut.“ Hat er einen Zettel mitgegeben und der Zettel, den konnte ich ganz gut behalten, mit dem Transport sofort nach Allach, am folgenden Morgen, in Allach hineingekommen und da stand für mich der Lagerführer Jarolin und Jarolin hatte ich gekannt in Dachau. Da habe ich gesagt: Ach, Men-schenskind, jetzt bin ich tot. Na, so schnell geht es dann auch nicht, ist er zu mir gekommen und hat gesagt: „Ach, bist du ein Pole, ein stinkender Pollack, komm mal her, was kannst du?“ Und den Zettel, den hatte ich inzwischen an Nowak von der Schreibstube gegeben und der hat gelesen und in Polnisch hat er zu mir geschrien: „Zotajez!“ Und ich habe geantwortet: „Tak, tak.“ Ein bißchen Polnisch, das ich konnte und da hat der Jarolin gesehen: „Was kann denn der, der Bursche?“ Hat der Nowak gesagt: „Oh, der kann Deutsch sprechen, der kann Polnisch sprechen, der kann Französisch sprechen, der kann Niederländisch sprechen, der kann Flämisch sprechen, der kann alles.“ Das war nicht wahr, weil Polnisch konnte ich nur ein bißchen und Niederländisch und Flämisch war dasselbe. Das Sprechen nicht, aber geschrieben ist das genau dasselbe, das ist wie hochdeutsch und plattdeutsch. „Naja, dann kann der hier ein bißchen herumlaufen, macht er Lagerläufer.“ Und Lagerläufer, auch wenn die Toten, die müssen zurück nach Dachau, da kann er auch mit den Toten nach Dachau fahren. Und so war ich dann Lagerläufer in einer schrecklichen Angst vor Jarolin, weil ich dachte, an irgendeinem Tage erinnert er sich, daß ich in Dachau war und daß ich Belgier war und so ist es dann gekommen, daß am Ende, am 28. und das steht in dem Buch, dem Buch von der Dokumentation von Dachau, am 28. April 1945 ich mit einem toten Häftling nach Dachau gefahren bin. Wir konnten damals nicht durch’s Tor, wir kamen, hinter dem Krematorium war auch zwei große Tore, Holztore und dadurch sind wir dann gekommen.

Frage: Herr, Sel, können Sie etwas das Lager Allach beschreiben?

Sel: Ja, das Lager Allach, wenn ich es noch gut erinnere, zwischen acht und zehntausend Häftlingen. Das war ein Arbeitslager von Kommando, ein Arbeitslager-kommando von Dachau aus und da die mußten arbeiten für die Rüstung. Also da war eine Munitionsfabrik, da war Junkers, da war BMW, Junkers Moosach war es, dann BMW, Aufräumungskommando für v.a. erstens für München und später für Dachau selber, v.a. Bahnhof von Dachau. Die Behandlung war dann vielleicht ein bißchen besser dann in Dachau, weil wenn man arbeitete, dann kriegte man jeder Arbeiter, Häftling, zwei Schnitte Brot mit einem Stückchen Wurst dazwischen oder ein bißchen Margarine, Butter oder Käse oder so etwas. Das kriegte man dann um zehn Uhr morgens und das wurde vielleicht durch BMW oder Junkers oder die andere Rüstungsfirma bezahlt. Weitere, ich bin nie mitgewesen, ich bin nur dort gewesen in München für das Abholen von Toten und auch bin ich mit gewesen für das Aufräumungskommando von Bahnhof von Dachau und da war ein ganzer Waggon mit Paketen vom Roten Kreuz von der Schweiz für Belgier, stand drauf Neuengamme-Buchenwald und das war alles nach München geschickt worden, nach Dachau oder ich weiß nicht warum, weil die nicht mehr nach Neuengamme oder nach Buchenwald gehen konnte. Da waren schon die Amerikaner und die Engländer schon zu nahe dran. Das weiß ich von Allach. Die Behandlung war vielleicht ein bißchen besser, weil die Leute dort, die sollten arbeiten für die Rüstung.

Frage: Welche Nationalitäten waren denn dort?

Sel: Alle, alle Nationalitäten, ich habe da alle Nationalitäten gekannt, v.a. Russen und Polen und Sudentendeutsche habe ich auch da gesehen, Belgier, da waren 119 Belgier da. Ich habe die Liste später gemacht für die Amerikaner, waren 119 Belgier. Aber vielleicht waren Franzosen da, aber wieviel, das weiß ich nicht. Franzosen, Holländer, Tschechen, Slowenen, Bulgaren, Juden auch welche, nicht viel, aber doch waren auch noch Juden da. Naja, alle Nationalitäten, die in Dachau waren, die waren auch da zur Arbeit geschickt nach Allach. Ich habe gehört, daß später bis zehn, bis zwölf-, bis fünfzehntaussend Leute da gewesen sind, aber das weiß ich nicht, das darf ich nicht sagen, weil ich habe die Zählung nicht mehr mitgemacht in der Schreibstube. Ich konnte jeden Tag auf die Schreibstube kommen. Dann eines

Tages ist da ein Transport fertig gemacht von 2.000 Russen und die sollten am nächsten Tag, das 14 Tage vor der Befreiung, sollten am nächsten Tag abtranspor-tiert werden. Wohin wußte niemand. Aber der Arbeitseinsatz, bei uns da war ein Sudetendeutscher und hat gesagt, er hat sechs Listen fertig gemacht und er hat gesagt, wo die Listen waren. Da war ein Belgier, ein Rechtsanwalt und der heißt Bob Claasens und Bob Claasens, der war ein ganz großer Mann, er war auch Kommu-nist, aber er war Rechtsanwalt in Belgien und der hat gesagt, die Listen, die Transportlisten, die müssen verschwinden. Und da war da ein Russe, Joseph Semjonow, der Jacques Brousson, ein anderer Belgier und ich, die alle drei das Recht hatten, die Schreibstube zu betreten. Wir sind da hingekommen und wir haben uns vorgestellt, wir sollten Nachtdienst machen, Nachtschicht und wir haben nachts die Fenster geöffnet, Bob Claasens war da, wir haben ihm die sechs Exemplare Liste gegeben und ist damit verschwunden, hat sie vernichtet, und am nächsten Tag stand die ganze Bande SS da mit den Hunden und alles und da war kein Russe fertig. Nein, die konnten die Russen nicht rufen, weil die hatten die Liste, die Transportlisten nicht. Und da hat es anscheinend einen Krach gegeben und dann sollte man aufs Neue die Liste machen, aufs Neue, aber das ist nicht mehr gelun-gen. So das war das, das weiß ich auch noch von Allach, was am Ende geschehen ist. Ja, später, dann habe ich gesagt, ich mußte jedesmal mit einem Wagen, mit einem Eselswagen, mit einem Posten nach Dachau gehen und in Dachau die Toten abgeben ins Krematorium. Was in Dachau, auch dieser Moment in Dachau war schlimm, sehr schlimm da waren über Tausende und Tausende pro Monat, die sind da gestorben. Die ganze rechte Seite, also von (Block) 1 bis 29, da waren alle die Blöcke, früher waren da die, vom 1 bis 9 waren Revier, 5 war Experimentenrevier, dann 9, aber jetzt waren bis 29 Quarantäneblocks und da lagen die Toten hinten nicht am Rand von der Lagerstraße, aber hinter den Blöcken. Es war schrecklich, denn man konnte nicht mehr da hin, wo ich schlagen sollte, weil am Ende, das war nicht früher, weil früher konnte man in die Gärtnerei gehen auch zum Arbeiten, die war an der linken Seite, Seite vom Krematorium und die rechte Seite, da war ein Block 31, aber das weiß ich nicht, ich habe keine Nummer gesehen und da war der Block, die alte Desinfektionsbaracke und die Desinfektionsbaracke, ja die stand nicht mehr. Desinfektion war vorne im Gebäude. Aber da war dann der Puff, also das Bordell und da konnten nur Reichsdeutsche hingehen mit einem Prämienschein, d.h. Prämienschein konnte man haben, wenn man über Pensum gearbeitet hatte, also können Sie glauben, Arbeit macht frei, und dann noch über Pensum arbeiten, das war schrecklich. Es waren nur die Köche, die Blockältesten, und die Kapos, die mehr Essen hatten, noch ziemlich gut (beisammen) waren, die konnten dann mit Prämien-schein da hingehen, aber die haben nicht über Pensum gearbeitet, die haben den Prämienschein getauscht mit anderen Leute, die welche hatten, umgetauscht für eine Kuhle Brot oder so etwas und dann sind die zum Puff gegangen und jedes Mal, wenn ich mit den Toten, mit Toten von Allach nach Dachau gekommen bin, sollte ich dort schlafen gehen, weil ich konnte nicht mehr ins Lager, das war abgesperrt, abgeriegelt mit Zaundraht und Tür und ich konnte nicht mehr von Gärtnerei oder von Krematorium oder von Baracke, vom Puff, ich konnte nicht mehr ins große Lager gehen, da mußte man dann die Tür passieren und da stand ein Posten, ein Scharführer oder so etwas oder ich weiß nicht, ein Rottenführer oder so etwas, aber da konnte man nicht mehr hinein, also mußte ich im Puff schlafen - schrecklich, weil man mußte daran denken, in diesen Umständen, wo man da sitzt und dann nicht mehr einmal Kameraden besuchten konnte. Vielleicht waren die krank oder so etwas, nein, ich konnte nicht mehr, im KZ konnte man nicht mehr von Block zu Block gehen, das war schrecklich und überall die Toten, war schrecklich. Und Essen war sehr wenig, weil derjenige, der nicht arbeitete, kriegte auch weniger Essen. Also die zwei Schnitten Brot, das die Kommandos hatten, um zehn Uhr morgens, die kriegten die anderen nicht. Also das war nur die Kohlrabisuppe und am Abend ein Sechstel von einem Brot, das war nicht viel. Morgens da war heißes Wasser, farbiges, heißes Wasser. Ich weiß nicht, von was die das gemacht haben, aber Kaffee war es überhaupt nicht. Die Leute, die da in Dachau waren am Ende, die nicht im Arbeits-kommando waren, die haben es sehr schlimm gehabt, sehr schlimm.

Frage: Im Krematorium sind aber nicht nur die Leichen von den Häftlingen verbrannt worden, sondern auch von Münchner Bürgern?

Sel: Jawohl, und Dachauer Bürgern, ja. Das habe ich gewußt, weil auf einmal kam der Rauch da draußen, war schwer gelb und von uns war das grau, fast kein Rauch, aber von einem Außenstehenden, der war noch dick und fett und da haben wir immer gesagt: „Schau mal an, wieder ein vollgefressener Sack, der durch den Kamin geht.“ Und dann hat man gesehen, der Rauch war viel dicker und viel Fett und dann wurde das wieder in eine Kiste gemacht und wieder mitgenommen. - Gegen Bezahlung, unsere Bezahlung für eine Leiche von uns, ein Toter, das war ungefähr 1,50 Mark oder 3 Mark, ich weiß nicht mehr. Das steht da irgendwo in einem Buch, ich weiß die Zahlen nicht mehr genau. Aber die anderen Leute, die von draußen Kamen, die haben viel mehr bezahlt.

Frage: Was wußten Sie denn über die Gaskammer?

Sel: Die Gaskammer, die sind gebaut worden ich glaube ‘44, ich weiß nicht mehr genau. Ich weiß nicht mehr genau, wann, steht auch noch irgendwo aufgeschrieben, und die ist durch Priester, polnische Priester und Fachleuten aufgebaut, aber als alles schön aufgebaut war und die Röhren gelegt worden sind, dann hat man die Röhren vollgestopft mit Zement oder, ja mit Zement und Steinstücken und deswe-gen, wenn man dann probiert hat, ausprobiert hat, ob das Brausebad marschierte, dann ist das nicht marschiert, dann ist der Rauch wieder herausgeschlagen. Und dann haben die gesagt, daß es sabotiert wurde und dann sind da welche von den Kommandos sind da aufgehängt worden, aber ich da waren zwei Franzosen von Marseille, ich habe die Adresse Zuhause, und ich weiß auch nicht mehr, ob sie noch leben, die waren auch dabei und die haben es dann später erzählen können zu den anderen Leute, auch dem Internationalen Komitee und deswegen ist das nicht gelungen, daß, die Gaskammer in Dachau zu nutzen.

Frage: Waren Sie denn bei Exekutionen oder Erhängungen dabei?

Sel: Jawohl, da war, da war dahinten, habe ich gesehen und auf dem Appellplatz, früher, aber nicht in Dachau, in Sachsenhausen. Appellplatz war in Dachau, aber vor der Baracke X, wie man sagte, davor, stand der Galgen und da habe ich gesehen, daß gehängt wurde und es wurde auch im Krematoriumgebäude gehängt. Die Haken sind noch immer da, wo man die vier Frauen, die englischen Frauen gehängt, die Fallschirmspringer. Waren vier Frauen, da steht noch eine Plakette im Kremato-rium und die sind da aufgehängt worden.

Frage: Konnten Sie Belgier eine eigene Gruppe bilden im Lager?

Sel: Ja, aber - in Allach ja, in Alllach hatten wir eine schöne Gruppe, da war der Chef, der richtige Chef war der Bob Claasens, der war der Rechtsanwalt von Belgien. Und wir waren nicht viele, wir waren 119 und wir kannten praktisch jeder kannte einander. Das ist, das war ganz gut bei uns getarnt, aber ich sage mit der Befreiung war ich nicht da, an der Befreiung war ich in Dachau.

Frage: Sie haben vorher schon den Lagerführer Jarolin erwähnt. Können Sie ein bißchen den Charakter der SS-Leute beschreiben?

Sel: Ja, beschreiben, ja da ist nicht viel zu beschreiben, das waren alles Sadisten und ja die machten schon Sachen, nur um die Gefangenen ein Leid anzutun. Nur Leid zu tun, nur Leid zu tun, abzusehen zu töten und mit den Hunden, die Hunde auf die Gefangenen jagen ohne etwas, ohne Ursache. Ich habe immer dafür gesorgt, daß ich aus, ich habe immer mit den Augen gearbeitet und wenn ich einen SS-Mann gesehen habe, habe ich mich versteckt oder bin irgendwo hingegangen. Wenn die mich gerufen haben, dann war immer Angst am ganzen Körper. Man wußte nie, was die Leute wollten, nie.

Frage: Es gab dann ja auch eine große Flecktyphusepidemie 44/45. Wie hat sich denn das dann ausgewirkt?

Sel: Das weiß ich nicht, überall stand auf allen Türen ein Muselmann, ein ausgehun-gerter Mensch, und da stand dann darauf, mit seinen Kleidern und er sucht nach Bestien und dann stand darauf: Eine Laus dein Tod! Und dann habe ich gesagt: „Was ist denn das?“ Und da hat man uns erklärt, mit Desinfektionskommandos, die sind dann gekommen, die haben uns desinfiziert und haben gesagt, wir sollen alle Läuse töten, aber fang mal an. Denn wenn man seine Hose umdrehte, die Hose, die ist stehen geblieben, weil so viele Läuse und Flöhe da waren. Und das Schlimmste daran waren die Flöhe, weil die Laus, eine Laus, die hatte Diarhöe und die kroch über den Körper und die hat dann die Diarrhöespuren hinterlassen und dann ein Floh, der hat dann hingebissen und so, da ist es nach 36 Stunden glaube ich, da hat das Fleckfieber angefangen, der Typhus. Man hat verschiedene, man hatte Durchlauftyphus, Bauchlauf und der Flecktyphus selber dann und das war ungefähr so zwei, drei Wochen, dann mußte man einen Freund haben oder irgend jemanden, der es konnte, mit Wasser zu geben, zu Trinken und Zucker dazufügen. Aber Zucker, das war dann sehr schwer zu kriegen, mußte man immer dann betteln und v.a. die Pfarrer, der Pfarrer Roth, der sich da aufgehängt hat in ‘59 oder in ‘60, der Pfarrer Roth der hat viele Leute so gerettet, mit Zucker. Zucker, Wasser und gegeben zum Trinken, aber wenige sind, haben es überstanden. Wenn die Amerika-ner gekommen sind, dann ist alles besser gegangen, die haben sofort Spritze gegeben gegen Paratyphus und da ist es viel besser und die hatten auch alles mit, Zucker, Essen.

Frage: Es gab ja auch die medizinischen Versuche im Lager?

Sel: Ja, die medizinischen Versuche, das war in Block 5, ich bin in Block 9 und in Block 3, aber in 5, nein, da bin ich nicht gewesen. Ich habe nur gesehen, daß da die Malaria, die Leute von Malariaversuch, die habe ich gesehen, später, und Phlegmo-ne. Diese Leute, die dann die Phlegmone und die Stücken vom Bein, die Versuche gehabt haben. Wenn die es überlebt hätten, weil viele sind gestorben und dann die Versuche mit dem, die Fotos kann man sehen, aber das weiß ich nicht.

Frage: Waren Sie denn im Lager über die Kriegsentwicklung informiert?

Sel: Jawohl, wir hatten Kontakt von draußen von den Arbeitskommandos von draußen und wir hatten auch, wie heißt das, Radio, aber dann hat man dann die Entwicklung herumgesagt, aber mit viele, vielen (Übertreibungen): Ach, die sind schon vorbei Köln und die waren noch nicht über der Rhein usw. Sachen erzählt, die noch nicht wahr waren, aber zuletzt könnten wie schon eine Woche, mehr wie eine Woche die Kanonenschüsse hören, das haben wir gehört.

Frage: Hatte man nicht Angst, daß das Lager liquidiert werden würde?

Sel: Ja, wir hatten Angst, daß das Lager, das Lager liquidiert werden würde. Und dann hatte man den Befehl gekriegt, daß, alle Türen und Fenster schließen und dann gesagt, daß da Kanister fertig standen mit Gas oder so etwas und dann hat das Internationale Komitee, alle Komitees gesagt, von allen Nationen: Nein! Türen und Fenster offen lassen! Und das ist dann so gemacht worden. Und die sind nicht hineingekommen, die haben wahrscheinlich haben die auch Angst gehabt, die SSler auf diesem Moment.

Frage: Aber es gab diese Vorbereitung vom Internationalen Häftlingskomitee?

Sel: Jaja, die waren schon fertig, die waren schon tatsächlich damit beschäftigt, ja. - Weil jede Nationalität, wenn die Befreiung gekommen ist, hat seine Fahne schon gemacht und die Fahnen kamen auf einmal, wenn dann die Befreiung da war, auf einmal sind alle die Fahnen da hinausgekommen. Ach, man weiß nicht wie diese Fahnen gemacht worden sind, aber die waren da.

Frage: Können Sie die Befreiung nochmal ein bißchen schildern?

Sel: Ich war mit dem Kapo, dem Morgenstern vom Krematorium, wir hatten uns versteckt in dem kleine Krematorium, das erste Krematorium, da hatten wir uns versteckt, und da haben wir gesagt, weil wir glaubten, daß alle vom letzten Kom-mando, Krematoriumkommando, aufgehängt werden sollten. Und deswegen haben wir uns versteckt und auf einmal hat er gesagt: „Ich höre schießen.“ - Ja, das war so, da hörte man schießen, da über uns, weil in dem Krematorium war das Gelände ein bißchen höher, wo die Eisenbahnschienen waren und haben wir schießen gehört, weil da standen auch Waggons, die standen da, aber das wußten wir nicht, haben wir später gesehen, daß da Waggons standen mit all den Leichen drin. Und dann waren die Amerikaner sehr wütend und dann ist noch etwas: Die alten SS-Leute, die sind verschwunden, laufen gegangen, und da war ein anderer SS-Verband, die da gekommen sind, weil die weiße Fahne war schon hoch und die haben dann, die anderen SS-Verbände, die sind dann da gekommen. Geschossen haben dann die Amerikaner und die weiße Fahne war da, da waren die Amerikaner sehr wütend, die haben zurück geschossen. Aber dann die Befreiung, habe ich gesagt: „Du, Willy, hör mal! Das ist kein Deutsch!“ - „Nein“, hat er gesagt, „das ist kein Deutsch“ - „Hör mal gut“, da hat er leise die Tür aufgemacht von dem Zimmer, da hatten wir so ein kleines Zimmer, leise aufgemacht, und da habe ich gesagt: „Du, Willy“, habe ich gesagt, „hör mal! Das ist Amerikanisch!“ - „Amerikanisch?!“ hat er gesagt, dann ist er raus, habe ich ihm gerufen - oh, unglaublich. Das Wort „frei“, ich glaube, das hat eine Stunde gedauert, eine Stunde gedauert, aber so, so war es. Und dann haben wir geweint, es war so unbeschreiblich, so etwas kann man fast nicht glauben, nach vier Jahren war wieder da die Freiheit und ausgebrüllt haben wir es vor Wut gegen die Verbrecherbande. Wir konnten gegen die Verbrecherbande nichts mehr tun, die waren weg. Nachher habe ich, wenn ein Hauptmann von der amerikanischen Armee da zwischen die Häftlinge gegangen ist, hat einer oder zwei von diesen Häftlingen, Kapos oder Blockälteste, zwei SSler oder drei SSler, ich weiß nicht mehr wieviel, rausgeholt, die hatten schon unsere Klamotten, unser Sträflings(kleidung), aber die konnten das gut sehen und die Amerikaner haben es auch sofort gesehen. Die waren vollgefressene Säcke gegen uns, die, alle diese Muselmänner und magere Leute, die da standen und die haben die da mitgenommen. Ich glaube auch erschossen, ich darf das alles nicht so erzählen, weil ich weiß nicht, es ist passiert, es scheint 20 oder 21 oder vielleicht mehr hat der Amerikaner im vorigen Jahr gesagt, der Colonel Ted Johnson, daß sie da sofort erschossen haben.

Also die Freiheit war da, aber jetzt kam die Gefahr, daß die Leute essen wollten, alle. Da waren vielleicht 32.000 Gefangene, die wollten da alle Essen haben. Die Amerikaner, die sollten dann für das Essen sorgen und die haben da vielleicht Fehler gemacht, zuviel Essen gegeben, sofort an die Leute, die ausgehungerten und es scheint, es sind 2.500 noch von unseren Kameraden gestorben, weil der Magen geplatzt ist, später.

Ich wollte da noch etwas dazufügen, weil wir sind so schnell gegangen, daß ich vergessen habe zu erzählen von dem zweiten Mordversuch. Also am 28. (April) sind wir hineingekommen, von hinten ins Krematorium hinein und da war ein Oberschar-führer oder Rapportführer und da hatte ich schon mal früher gesehen, auch da, nicht jeden, die hatten auch so eine Art Umwechselung von Wache und da hat der gesagt, habe ich mich gemeldet, drei Meter von ihm entfernt, „Mützen ab!“ und habe gesagt: „Häftling 111.939 meldet sich gehorsamst mit einem toten Mann!“ Er hat mir gleich eine runtergehauen, bin auf den Boden gefallen, hat mit seinen Stiefeln gestampft und gesagt: „Was sagst du?! Aufs neue!“ Bin ich wieder recht gestanden, ich war ganz, ganz kaputt, ich stand, das Blut lief so bis in den Mund, ich habe es ge-schmeckt, und ich habe vielleicht in meine Hose getan, ich weiß es nicht, ich war sehr, sehr nahe daran am Tod und da hat er gesagt: „Noch einmal sagen! Eine bessere Meldung!“ Und da habe ich wieder gemeldet, da habe ich gesagt vor Angst, habe ich gesagt statt „Häftling“, wieder „Mann und ein Toter.“ Aber kein Mann mehr, für mich hatte ich gesagt: „Ein Mann und ein Toter.“ Hat er wieder geschlagen und seine Pistole gezogen, hat er gesagt: „Jetzt kriegst du noch eine Chance! Aufs neue!“ Und da ist der Kapo, da war der Wilhelm ....., der war da hinter mir und da hat er gesagt - so - da hat er so gemacht - zwei - aber hinter seinem Rücken und da habe ich gedacht: Was will er sagen?! Und da habe ich wieder gemeldet, habe ich gesagt, meine Meldung gemacht: „Es meldet sich gehorsamst, 111.939, zwei Häftlinge!“ - „Na, siehst du, kannst du schon eine Meldung machen.“ Dann hat er seine Pistole wieder hinein und dann ist er ausgefahren und hat gesagt: „Ich bestimme, wer hier tot ist oder lebendig. Ich tue das und du wirst es sehen, du Arschloch, du blödes!“ In diesen Worten und dann habe ich es gesehen, denn dann hat man zwei oder drei andere Leute vom Krematoriumkommando haben sofort den Toten ausgezogen, wenn er nackt da war und hat seinen Bleistift genommen und hat gesagt, hat er den Namen von dem Toten geschrieben auf seiner Liste, die hatten eine große Liste und an seinem Zeh einen Zettel angebunden mit seiner Nummer von dem Toten drauf, hat er gesagt: „Siehst du das! Siehst du, du Arschloch, jetzt ist er tot! Ich bestimme, wann er tot ist!“ Also kann man sehen die Arroganz, die Arroganz, die sadistische Arroganz von diesen Leuten, damals, es war unglaublich. Das war unbeschreiblich.

Frage: Herr Sel, können Sie kurz Ihre Situation dann im Feldlazarett beschreiben?

Sel: Am 30. April bin ich dann mit einem amerikanischen Offizier von Dachau nach Allach gefahren. Dort hat man mich nach dem Feldlazarett, field hospital, geschickt und hat man meine Verletzungen versorgt, meine Augen usw. Und dann auch hat man gesehen, ja ich war sehr, sehr mager. Ich hatte fast, war sehr schwach und dann hat man mich versorgt im Feldlazarett, aber inzwischen waren dann fast alle Belgier nach Hause gefahren, die waren schon weg und dann hat man gesagt: „Ja, jetzt bin ich an der Reihe, ich gehe auch nach Hause.“ - „Nein, nein“, hat der Amerikaner gesagt, „du bist ein Pole, du gehst wieder nach Polen.“ Habe ich gesagt: „Nein, nein, das ist doch ein Witz!“ Dann habe ich ihm erzählt, aber er hat mir nicht geglaubt, hat gesagt, ich sollte nach Polen gehen. Also dann habe ich mal nachge-dacht und habe gesagt, dann gehe ich so, ohne Genehmigung nach Belgien. Und ich hatte da diesen Zettel, daß ich das Lager Tag und Nacht verlassen dürfte und dann bin ich weggegangen, habe immer das Zeichen gezeigt und so bin ich dann nach Hause gekommen und in Brüssel bin ich nach Schef gegangen, Schef da waren die Amerikaner und die Engländer, und die haben dann aufgenommen, daß ich wieder da war und dann nach Hause gekommen bin. Dann, als wir nach Hause gekommen sind, dann haben die Leute in Belgien gesehen, in welchen Zustand wir nach Hause gekommen sind und dann war es wieder, die Wut ist dann aufgekom-men und dann die Kollaborateure, sind wieder hineingegangen in die Häuser, die Leute geschlagen und mitgeschleppt ins Gefängnis, alles kaputt geschlagen usw. Das war das zweite Mal, daß die Bevölkerung ihre Wut gezeigt hat. Aber wir, wir waren Helden für zwei, drei Monate und später, ja, erstens wollten die uns nicht glauben, die haben uns nicht geglaubt, was wir mitgemacht haben, aber wenn sie dann diese Filmreportagen gesehen haben, haben sie gesagt: „Ach was ist denn da los? Warst du da auch dabei? Oh, mein armer Junge,“ usw. Aber das hat zwei, drei Monate gedauert, kein einziger Arzt ist bei uns gewesen, die haben keine Versor-gung gehabt und das hat dann so weiter gedauert, bis 1967 haben wir eine Invalidi-tät bekommen von 20%, nein von 10%, erst 10%, konzentrationäre Asthenie, heißt das bei uns, Asthenie vom Konzentrationslager. Also 1967 und ‘73 haben sie 10% beigefügt, also haben wir dann 20% bekommen von meinem Gehalt von, ja ich weiß nicht mehr, wieviel das damals war, so etwas von, jetzt ist das ungefähr 10.000 Francs in drei Monaten. 10.000, das ist 500 Mark für drei Monate. Das war also unsere Zurückkunft, unsere Rückkehr in Belgien. Bei den Franzosen ist es besser gegangen, bei den Deutschen ist es noch viel schlechter gegangen, weil die Deutschen, die haben damals nichts bekommen, am Anfand, die Franzosen ja. Die Holländer auch nicht, die Italiener ein bißchen dazwischen drin. Aber wir sind schlecht empfangen worden, nach zwei, drei Monaten war es vorbei.

Da war ein Belgier, der war von Eupen-Malmedy und Eupen-Malmedy das ist die Provinz, die von Deutschland nach 14/18 an Belgien gegeben wurde, und während des Krieges 40/45 wieder zu Deutschland kam, und die Leute, die sollten dann auch in die deutsche Wehrmacht gehen und sind wieder nach dem Krieg belgisch geworden. Aber der war kein Soldat, er wollte kein Soldat werden, weil er sagte: „ich bin Belgier.“ - „Nein, du bist wieder Deutscher.“ Und der hat sich geweigert und deswegen saß er im Konzentrationlager und der hat immer gesagt: „Erzähle nicht, was du hier mitgemacht hast, weil da ist kein Mensch, der wird dir glauben, wenn du nach Hause zurück kommst.“ Und der hat recht gehabt. Der hat wirklich recht gehabt, besonders, wenn dann diese Filmszenen gekommen sind, die ganze Presse von ganz Europa das gezeigt hat im Journal, wenn sie das alles gesehen haben, dann haben die doch ein bißchen geglaubt. Die Jugend jetzt glaubt das nicht mehr bei uns in Belgien, die können diese Fotos, diese Bilder sehen und sagen: „Oh, das ist cinema.“ Und deswegen: Wir müssen dagegen kämpfen und probieren, unsere Jugend zu sagen, was wirklich passiert ist, was wir getan haben für die Verteidigung von dem Frieden, des Völkerrechts und die Demokratie, was wir alles getan haben für das Leben auch. Das glauben die ein bißchen, natürlich auch gegen den Neonazismus und Neofaschismus, der wieder den Kopf raussteckt, auch bei uns, ist nicht nur hier in Deutschland, ist in Frankreich, überall und deswegen müssen wir, solange wir können darüber sprechen mit der Jugend und was wir mitgemacht haben, erzählen und was sie tun sollen gegen diese Leute, die die Geschichte vernichten wollen und dann sind wir glücklich, daß wir sagen können: Schau mal an, es gibt noch welche von diesen Konzentrationslagern, geh hin und schau mal an! Und dann haben wir etwas gewonnen.

Willy Sel