Detlef Korte, "Erziehung" ins Massengrab, "Die Geschichte des Arbeitserziehungslagers 
Nordmark" Kiel-Russee 1944-1945, Kiel : Neuer Malik-Verl., 1991

Veröffentlichungen des Beirats für Geschichte der Arbeiterbewegung und Demokratie
 in Schleswig-Holstein / Gesellschaft für Politik und Bildung Schleswig-Holstein e. V. ; Bd. 10
 ISBN 3-89029-922-9

   

Auszug: II. 8   Die Bernadotte-Aktion

Ab 1943 bemühte sich der Reichsführer SS Heinrich Himmler um geheime Kontakte zu den Westmächten, insbesondere zu den Vereinigten Staaten. Als Mittelsmann dafür benutzte er seinen „Leibarzt" Felix Kersten, einen finnischen Masseur deutscher Abstammung, der einflußreiche Personen in Schweden kannte. Über sie gelang es Kersten im Auftrag Himmlers, Kontakt zu amerikanischen Diplomaten in Schweden zu bekommen. Himmler ließ übermitteln, die USA und Nazideutschland hätten doch einen gemeinsamen Feind — die kommunistische Sowjetunion. Der Reichsführer SS wollte mit dieser Andeutung sondieren, ob ein Separatfrieden mit den Westmächten möglich sei. Um eine solche Bereitschaft herauszufinden, reiste Kersten mehrere Male nach Schweden und führte Gespräche mit amerikanischen Diplomaten. Auch Walter Schellenberg, der Chef des Auslandsnachrichtendienstes, wurde in dieser Sache nach Stockholm geschickt.425

Anfang 1945 hatte Himmler erneut die Möglichkeit, den Westalliierten seine Vorschläge zu unterbreiten. Die Grundlage dafür bildete eine Initiative des Grafen Folke Bernadotte, Vizepräsident des schwedischen Roten Kreuzes und Neffe des schwedischen Königs. Bernadotte plante, die skandinavischen Häftlinge aus den Konzentrationslagern zu retten. Durch Vermittlung Schellenbergs flog Bernadotte am 19.2.1945 nach Deutschland und traf sich zu einem geheimen Gespräch mit Himmler im SS-Sanatorium Hohenlychen nördlich von Berlin. Nach zähen Verhandlungen gelang es dem Grafen, die gewünschte Erlaubnis zu bekommen. Im Gegenzug verpflichtete sich Bernadotte, Himmlers Angebot (Separatfrieden) an die Westmächte weiterzuleiten. Die Bernadotte-Aktion konnte beginnen.426

In einer Blitzaktion stellte das schwedische Rote Kreuz mehrere Kfz-Züge mit insgesamt fast 50 Fahrzeugen zusammen. Hinzu kamen etwa 250 Ärzte, Sanitäter und Fahrer. Am 12. März passierte der Konvoi die dänisch-deutsche Grenze bei Padborg und fuhr Richtung Hamburg. Als Hauptquartier und Kod ordinierungsstelle diente der Sitz der Familie von Bismarck im Sachsenwal bei Hamburg. Im nahegelegenen Konzentrationslager Neuengamme war unterdessen der „Schonungsblock" geräumt worden. Er wurde vom schwedischen Roten Kreuz als ein ausschließlich ihm unterstelltes „Skandinavierlager" eingerichtet. Hier sollten die aus den Konzentrationslagern befreiten Skandinavier gesammelt werden, eine erste medizinische Hilfe erhalten und dann nach Dänemark bzw. Schweden gebracht werden.427

Vom Hamburger Umland aus fuhren die Wagenkolonnen — weiße Fahrzeuge mit aufgemaltem roten Kreuz und schwedischer Flagge — zu den einzelnen Lagern. Unter den mißtrauischen Augen von mitfahrenden Gestapobeamten erreichten die Rettungsfahrzeuge nicht nur die Lager im norddeutschen Raum (Ravensbrück, Sachsenhausen etc.), sondern kamen bis nach Dachau, Mauthausen und Theresienstadt (s. Karte). Die Kolonnen fuhren fast ununterbrochen über zerstörte, teilweise verminte Straßen und waren Tieffliegerangriffen ausgesetzt, bei denen Dutzende Schweden und Häftlinge umkamen....


Die Fahrrouten der weisse bussen. Aus Korte/Schwarz, S. 264.

Bald hatte die Rettungsaktion Ausmaße angenommen, die nicht mehr durch das schwedische Rote Kreuz allein bewältigt werden konnten. Mittlerweile war es Bernadotte gelungen, von Himmler die Zusage zu erhalten, auch jüdische Häftlinge retten zu dürfen. Den völlig überlasteten Schweden kam das dänische Rote Kreuz zur Hilfe. Quasi über Nacht stellte es in Padborg an der Grenze zu Deutschland eine Kolonne mit über 100 Fahrzeugen zusammen.429

Die über 100 jüdischen Häftlinge des „Arbeitserziehungslagers Nordmark" wollten es nicht glauben, als ihnen am Abend des 30. April mitgeteilt wurde, sie würden einen Tag später nach Schweden gebracht. Am nächsten Morgen wurde ihnen befohlen, ihre zerschlissene KZ-Kleidung abzulegen. Da Mangel an Ersatzkleidung herrschte, bekam ein Teil eine „besondere Garderobe".

Erwin Mosbach: „Zehn Mann, raus [aus der Baracke]. Diese wurden in eine Baracke geführt, wo die Leichen in langer Reihe wie Holz im Walde aufgestapelt waren. Fünf mußten hinaufklettern und männliche und weibliche Leichen herunterwerfen. Diese wurden dann entkleidet und die Kleidung in Männer- und Frauenbarakken gebracht. Wir mußten diese überaus verschmutzten Sachen anziehen und wurden dann wieder eingesperrt."430

Stephanie Schybilski: „Unsere Rettung steht mir noch nach so vielen Jahren klar vor Augen. Wir wurden am 30. April zusammengerufen, um uns mitzuteilen, daß wir am nächsten Tag nach Schweden gebracht würden. Wir mußten uns die blutdurchtränkten Klamotten anziehen, weil wir nicht in unseren Sträflingsuniformen ins Ausland gebracht werden durften"431

Beim Appell der jüdischen Häftlinge stellte sich heraus, daß einer fehlte: Artur Weinberg aus Fulda. Er war einige Tage zuvor beim „Organisieren" von Brot entdeckt, halb totgeschlagen und in den Bunker gesperrt worden. „Und das war natürlich grausam. In dieser Zelle gab es schon drei oder vier Leute. Das waren polnische Zwangsarbeiter. ... Das kommt nie aus meinem Gedächtnis heraus. ... Durch breite Schlitze in der Tür konnte ich sehen, wie die Wachleute zwei junge Männer — Polen oder Russen — totschlugen mit Knüppeln. ... Und das Schreien. Und das Bitten und das Flehen dieser zwei jungen Burschen. ... Und die [Wachleute] vollführten da einen Akt, wie man es sich schlimmer nicht vorstellen kann. ... Von oben herab den Kopf zu zerschlagen, bis alles herausspritzt aus dem Kopf ..., bis die Wand ringsherum blutig war, bis auf dem Boden eine große Blutlache lag. Und dann immer noch mit den Stiefeln die Leute auf den zerschlagenen Kopf zu treten, bis auch das letzte ... Röcheln heraus war aus diesen Körpern. Und das alles noch in den allerletzten Tagen!"432

Auch der deutsche Häftling Ernst P., der außerhalb des Bunkers arbeitete, wurde Zeuge dieses Vorfalls: „Diese beiden Opfer wurden jeweils vom Bewachungspersonal in den Bunker getrieben. Dann wurde der 'Lagerhenker' herbeigeholt. Nachdem dieser dann im Bunkerbau war, hörte ich das Schlagen und darauf das Schreien. Es war kein Schreien mehr, es war ein unheimliches Brüllen, in dem Todesangst und Schmerz vereint waren. Anschließend sah ich dann, wie der Henker dann die Opfer an einem Bein aus dem Bunker herausschleppte und auf den vor dieser Baracke vorhandenen Treppenstufen ablegte"433

Kurz nachdem Artur Weinberg aus dem Bunker herausgeschleift worden war, fuhr eine Kolonne dänischer Lastwagen ins Lager. Die jüdischen Häftlinge mißtrauten dem ganzen Unternehmen und weigerten sich, in die rettenden Fahrzeuge einzusteigen.

Fast alle hatten sie erfahren, wie im Osten Menschen mit als Rote-Kreuz-Fahrzeugen getarnten Gaswagen abtransportiert worden waren. Erst als sich das dänische Begleitpersonal als „echt" ausweisen konnte, schwand das Mißtrauen. Um die letzten Zweifel zu zerstreuen, ließen die Dänen während des Transports die Fahrzeugtüren einen Spalt weit offen.434

Die Fahrt ging in Richtung Norden. Kurz hinter der deutsch-dänischen Grenze wurde im deutschen Internierungslager Froslev 435 bei Padborg ein Halt gemacht. Hier hatte das dänische Rote Kreuz eine Versorgungsstation eingerichtet. Die völlig abgemagerten, verdreckten und größtenteils schwerkranken Menschen erhielten leichtverdauliche Nahrung, wurden gebadet und bekamen neue Kleidung und eine erste medizinische Versorgung.

Der Aufenthalt der Kieler Gruppe in Froslev dauerte nur eine Nacht, denn man befand sich noch in einem Gebiet, das von den deutschen Truppen kontrolliert wurde. Am nächsten Tag ging die Fahrt mit dem Zug weiter nach Kopenhagen. Hier setzte der Transport mit der Fähre nach Schweden über und erreichte am Abend des 3. Mai Malmö. Die Menschen waren jetzt endgültig in Sicherheit.436

Die etwa 120 ehemaligen jüdischen Häftlinge des „Arbeitserziehungslagers Nordmark" stellten nur einen Bruchteil der im Rahmen der Bernadotte-Aktion Geretteten dar. Insgesamt wurden mehr als 20.000 Menschen aus den Konzentrationslagern befreit. Sie entgingen dadurch der drohenden Gefahr, noch in den letzten Tagen des „Tausendjährigen Reichs" ermordet zu werden.

425 Besyminski, L.A.: Zur Rolle Himmlers und der SS bei den Versuchen, ein Separatabkommen zwischen Hitlerdeutschland und den Westmächten abzuschließen. In: Der deutsche Imperialismus und der 2. Weltkrieg. Heft 3 (1961), S. 130-152.
426 Fleming, S. 190ff.
427 Korte, Detlef und Rolf Schwarz: Die Bernadotte-Aktion. Eine Fotodokumentation. In: Demokratische Geschichte. Jahrbuch zur Arbeiterbewegung und Demokratie in Schleswig-Holstein 11 (1987), S. 263-283.
428 Svenska Röda Korset (Stockholm). Riksföreningen Folke Bernadottes Tysklanddetachment. Krigsdagbok 1. Plut.
429 Hewins, Ralph: Graf Folke Bernadotte. Frankfurt/Main 1952, S. 250ff. Befrielsesdage i Sonderjylland. Redigeret af C.J. Bech, Morten Kamphavener, Kai Edvard Larsen. Sonderborg 1946, S. 205 ff.
430 Schriftliche Mitteilung Mosbach.
431 Schriftliche Mitteilung Posament.
432 Gespräch mit Artur Weinberg.
433 Aussage vor der Polizei Kiel (11.2.1947), StawK 2 Js 809/63, Bd. 4.
434 Schriftliche Mitteilungen Levy und Mosbach.  Gespräch mit Artur Weinberg. Sherman, S. 137f .
435 Zur Geschichte des Lagers Fraslev s. Barfod   Jorgen:  Helvede har mange Navne. Kobenhavn 1969, S. 34ff. Befrielsesdage, S. 205ff.
436 Schriftlige Mitteilungen Levy, Mosbach, Posament und Weinberg. Sherman s. 139f . Sydsvenska Dagbladet 4. und 5.5.1945