GvdB 1370  Namen   Lager

van Hoey Albert in Verschlepp! zur Sklavenarbeit, Kriegsgefangene 
und Zwangsarbeiter in Schleswig-Holstein,
Hoch, Gerhard & Schwarz, 
Rolf, Alveshole und Nützen 1985, p. 7-12, ill.

  
 
   

Umschlag: Bernd Striepke, Kaltenkirchen
Lay-Out:   Jürgen Kaff er, Hamburg
Satz:        Letra-Satz, Wetzlar

Satz & Repro-Kollektiv, Hamburg

Druck:      W. Geffken, Druck- und Verlags-GmbH, Bremen Vertrieb:      
              
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über Gerhard Hoch - Buchenstraße 2
2081 AlvesloheTelefon (04193) 29 25

Inhalt

Albert van Hoey -Todesmarsch und Befreiung    
Gerhard Hoch - Glasau und SiblinRoll Schwarz -
Das Stammlager
Gerhard Hoch - Lübeck: Offizierslager
Christian Streit - Sowjetische Kriegsgefangene in deutscher Hand
Gerhard Hoch - Erweitertes Krankenrevier Heidkaten      
Detief Korte - Zwangsarbeiter oder Fremdarbeiter        
Horst Peters - Einsatzort Neumünster
Rolf Schwarz - Auf dem Friedhof
Uwe Danker - Zeitgeschichtliche Befragungen
Rolf Schwarz - Die Lager: Suche und Ergebnis 

    

Von Totenmarch und Befreiung - Albert van Hoey

Sechs überlebende belgische Widerstandskämpfer aus dem
lagern Blankenburg und Glasau kurz nach ihrer befreiung.
 Daneben zwei ihrer ermordeten Kameraden.

 

Albert van Hoey, geboren 1924 in der belgischen Provinz Ost-Flandern, hatte eben seine Lehrerausbildung abgeschlossen, als er auf dem Wege zur Kirche verhaftet wurde. Die deutsche Polizei hatte entdeckt, daß er aktiv in einem Spionagering tätig war. Damit begann, im Sommer 1944, sein Leidensweg.

Er überlebte, aber seine Gesundheit hatte stark gelitten. Dennoch konnte er viele Jahre seinen Beruf als Grundschullehrer in seiner Heimat ausüben. Im Januar 1985 konnte ich seiner Einladung folgen und ihn und seine Familie in ihrem Haus an der belgisch-holländischen Grenze besuchen. Bei der Gelegenheit stellte er den hier abgedruckten Beitrag zur Verfügung. Ersetzt sich zusammen aus seinen Eintragungen aus den Jahren 1945 und 1946. Dafür sei ihm hier besonders gedankt.

Schwerkranker Glasauer Haftling nach der Ankunft in Trelleborg
(mit freundl. Genehmigung der "Trelleborg Allehanda")

Am 8. August 1944 wurden wir vom Gefängnis "Nieuwe Wandeling" in Gent mit einem Reisebus nach Antwerpen  gebracht. Vier SS-Leute mit Gewehren bewaffnet, bewachten uns. Für einige Stunden wurden wir im Gefängnis in der Beginenstrasse, Antwerpen, eingesperrt. Abends ging es unter strenger Bewachung zum Ost-Bahnhof. Während der ganzen Nacht und noch am folgenden Morgen wurden Gefangene aus anderen belgischen Gefängnissen und Lagern in den Zug gebracht. Um 13 Uhr am 9.08.1944 begann unsere Elendsfahrt: etwa 800 Männer und einige hundert Frauen, getrennt hineingepfercht in Viehwaggons mit der Aufschrift: "Terroristen".

Bei strahlendem Sonnenschein verließen wir Antwerpen in Richtung Niederlande. Einige Kilometer vor der Grenze gelang es mir. eine Nachricht, in ein Taschenduch geknotet, durch das Fenstergitter nach draußen zu werfen. Der Bericht bestand aus zusammengeklebten Zeitungsausschnitten, mit gekochter Kartoffel auf Papiergeklebt.und Kritzeleien. Dieser Bericht wurde von einer deutschen Patrouille aufgesammelt, dann aber von einer belgischen Arbeiterin entwendet und an meine Familie geschickt. Das war die einzige Nachricht. die sie bis zum Kriegsende von mir erhielten. Die Fahrt in die Hölle hatte begonnen. Einige Gefangene erhielten ein Paket mit einigen Lebensmitteln vom Belgischen Roten Kreuz. Wir bekamen aber nichts hinunter wegens unserer ausgetrockneten Kehlen: nichts zu trinken, tropische Hitze und eine erstickende Enge auf Grund der Überfüllung der Waggons. Die Notdurft mußte im Waggon verrichtet werden; und so herrschte ein schrecklicher, würgender Gestank von Ausscheidungen und Schweiß. Zum Hinsetzen war nicht genug Platz. Die Fahrt mußt im Stehen ausgehalten werden.

So ging die  Fahrt  über Roosendaal. Breda, Eindhoven, Venlo, Kaldenkirchen. Auf dieser Grenzstation war Appell. Dabei wurde geschrien, gebrüllt und herumgestampft, so daß jede Hoffnung auf eine Verbesserung unseres Loses zunichte wurde.

Unter andauerndem Anfahren und wieder Halten ging die Nacht vorüber. Wir durchfuhren die schwach erleuchteten Bahnhöfe von Neuß und Düsseldorf. Am 10. August passierten wir Kassel, Erfurt und Weimar. Dann kam die Abzweigung nach Buchenwald. Davon halten wir noch nie gehört. Wahrend einiger Aufenthalte wurden wir von den SS-Leuten mit Steinen beworfen, wenn wir das Gesicht zu nahe an das Gitter brachten. Halbverrückt kamen wir gegen 16 Uhr in Buchenwald an.

Alles, was wir besaßen, wurde uns weggenommen, auch unsere Rot-Kreuz-Pakete. Dann mußten wir die gesamte Kleidung ablegen, um unter der Dusche entlaust zu werden, immer zu zehn, vollkommen nackt. Alle behaarten Körperstellen wurden rasiert. Ich wäre beinahe in Ohnmacht gefallen, konnte mich aber gerade noch aufrecht halten. Danach erhielt jeder eienen Lumpenanzug. Das sah so unmöglich aus, daß wir in all unserem Elend noch lachen konneten. Denn es konnte passieren, daß einer seinen eigenen Bruder nicht wiedererkannte. Sodann mußten wir anstehen, um einen Fragebogen auszufüllen, und wir erhielten unsere Nummer. Ich erhielt die Nummer 75623. Es war schon fast Nacht, als wir in unser vorläufiges Quartier gebracht wurden, mit 800 Mann in zwei Zelten, die voller Flöhe waren. Glücklicherweise war es eine warme Nacht, und die Zelte waren teilweise offen.

Wir Neulinge befanden uns in einem Lager von 50.000 Häftlingen, in einer wahren Barackenstadt. Pater Leloir, auch ein Neuankömmling, wurde mit allgemeiner Zustimmung beauftragt die Belange der neuen Gruppe zu vertreten. Er schaffte es nach einiger Zeit, Ordnung in unser Durcheinander zu bringen. Während der ersten Tage mußten wir in einen nahegelegenen Steinbruch und schwere Steine unter dem Arm ins Lager tragen. Am Sonntag zogen wir um nach Block 57, in eine Holzbaracke, die in 16 Boxen aufgeteilt war. Eine Box diente als Eß- und Schlafstelle für 54 Häftlinge. Sie bestand aus dreistöckigen Doppelfächern, und in jedem Fach mußten 9 Personen Platz finden. Das war aber nur möglich, wenn man Kopf an Fuß und Fuß an Kopf lag, wie Heringe in der Tonne. Ein Fach maß etwa 2- 3 Meter . Der Block war voller Flöhe und Läuse, und für 800 Mann gab es 100 Schüsseln. Das Schleppen der schweren Steine, Impfungen gegen allerlei Krankheiten und die stundenlangen Appelle - das füllte unsere Tage in dieser "Quarantäne".

Nach einem Appell folgte dann die große Siebung. Der größte Teil der Neuankömmlinge sollte auf Transport gehen. Ich war auch dabei. Die bisherige Häftlingskleidung mußten wir wieder abgeben, um dafür die Zebra-Kleidung zu empfangen. Mit einem Eisendraht wurde unsere Nummer daran festgenäht.

Am 23. August setzte sich unser Zug in Bewegung: 400 Belgier und 100 Häftlinge anderer Nationalitäten. Abermals wurden wir in Viehwaggons gepfercht. Sengende Hitze und schrecklicher Durst machten die Fahrt sehr qualvoll. Und vor allem: ich hatte nun Diarrhö; schreckliche Krämpfe und Apathie waren die Folge. Und wohin ging die Fahrt? Niemand sagte es uns.

Nach 30 Stunden Eisenbahnfahrt für nur 120 Kilometer waren wir in Blankenburg (Harz), 12 km südlich von Halberstadt. In Gruppen von je 100 Mann, in Dreierreihen, begleitet von bewaffneten SS-Leuten, mußten wir viele Kilometer marschieren, bis zu einem öden Platz, gesichert mit einem 3 Meter hohen Stacheldrahtzaun und hohen Wachtürmen. Dort standen schon eine Holzbaracke für die SS und 42 Hitlerjugend-Zelte. In jedem Zelt wurden 12 Häftlinge untergebracht. Wir schliefen auf Stroh, mit den Köpfen zur Außenseite und die Füße zur Mitte. Glücklicherweise war es noch Sommer. Am nächsten Tag war eine Art "Sklavenmarkt" . Wir mußten zum Appell antreten. Dann erschienen die Firmenbosse, um Arbeiter auszusuchen. Ich wurde dem Kommando K zugeteilt für die Firma Reinghausen, die den Auftrag hatte, das Lager Blankenburg aufzubauen. Ich war nicht sehr glücklich dran, denn unser Kapo war ein deutscher Krimineller, der schon 11 Jahre gesessen hatte. Er war ein Sadist, der den ganzen Tag brüllte und mit dem Knüppel zur Stelle war, wenn die Häftlinge nicht hart genug arbeiteten. Die SS sorgte für die Bewachung während der Arbeit und griff ein, wenn etwas schiefging.

Nun lief jeder Tag so ab: Um 4 Uhr Aufstehen zum Appell. Von 6 bis 19 Uhr Arbeit, mit einer Stunde Mittagpause, Abendappell, Essen-Ausgabe und Schlafen. Arbeiten! Die erste Woche ging hin mit dem Ausheben von Abzugsgräben und Barackenfundamenten, Beton-Mischen und -Abfahren mit einem Schubkarren. Außerdem mußten wir regelmäßig Zement und Baumaterial be- und entladen auf dem Bahnhof Regenstein oder Blankenburg. Das war schwere Arbeit. Aber sie brachte doch Abwechslung und die Gelegenheit, ein wenig mehr von der Gegend zu sehen.

Am 1. Oktober zogen wir um aus unseren Zellen in die erste der zwei rechts stehenden Barakken, in der aber die Fenster und Türen fehlten. Inzwischen war es kalt und feucht geworden. Am 15. Oktober wurde ich ernsttich krank: Lungenentzündung. Nach zwei Tagen mit über 39 Grad Fieber mußte ich ins Krankenrevier. Vier Tage lag ich dort ohne Bewußtsein, mit 40-41 Grad Fieber. Ein französischer Häftlingsarzt und sein polnischer Assistent konnten nichts anderes tun, als Vitamin-Tabletten aus einem Rot-Kreuz-Paket zu verabreichen. Aber das Fieber ließ nach, und sobald das Thermometer unter 38 Grad sank, mußte ich zurück an die Arbeit.  Das war am 3. November. Ich wankte noch auf den Beinen und hatte stechende Schmerzen unter den Schulterblättern, mußte aber trotzdem mit meiner Gruppe hinaus, bei Nebel und Regen. Doch ich hatte Glück, denn ich wurde in das Kommando H versetzt, das einen besseren Kapo hatte: Janek, einen Polen. Nun arbeitete ich für die Firma Weiß, die eine ganze »Siedlung« für ausländische Arbeiter errichten mußte, wenige Kilometer vom Lager entfernt. Der Platz war hier viel größer, und wir waren auch nicht mehr einem so großen Druck ausgesetzt. Durch Absprache unter den Mitgefangenen konnte ich im Zementschuppen arbeiten, wo ich besser gegen Regen, Wind und Kalte geschützt war. Mit leeren Zementisäcken schülzte ich mir Brust und Rücken. Am 9. November fiel der erste Schnee, und wir machten Bekanntschaft mit dem harten Winter im Harz-Gebirge. Mitte Dezember wurde ich zur Firma Schreyber versetzt. Dort mußten wir den ganzen Winter hindurch den hartgefrorenen Erdboden hakken, um Drainage zu legen. Wenn wir tief in unseren Schächten standen, kamen die SS-Leute, bewarfen uns mit Steinen und Schneebällen und beschimpften uns als Faulpelze und Schweine.

Inzwischen waren schon viele unserer Kameraden gestorben, vor allem auf Grund von Hunger-Ödemen. Die Toten wurden ihrer Kleidung beraubt, in eine Holzbaracke gelegt und dann, etwas außerhalb des Lagers, wie tote Hunde in eine Grube geworfen. Einmal mußte auch ich helfen, die Mithäftlinge wegzutragen. Das war schauderhaft.

Eine große Freude war es als ich am Heiligen Abend in unserer schwach beleuchteten Baracke einen Gottesdienst mit Pater Harmel, dem Prior der Benediktiner-Abtei Maredsous, beiwohnen durfte.

Unter der Aufsicht von SS-Leuten, Kapos, Vorarbeitern, Bauführern und Firmenleitern mußten wir so Woche für Woche schuften. An den freien Sonntagen mußten wir innerhalb des Lagers arbeiten. Jeden Abend gab es ein Stück Brot für den ganzen Tag, morgens eine braune Brühe ("Ersatz-Getränk«) und mittags eine Kohlsuppe und zwei Pellkartoffeln. Hunger! Hunger, den ganzen Tag. auch die Nacht: Hunger! Es war ein unaufhörliches Streben, nur ja kein »Muselmann«(1) zu werden. Alles nur irgendwie Genießbare wurde gegessen: Brennesseln, Löwenzahn, Hagebutten, Zuckerrüben usw. Nicht ein einziges mal erhielten wir, so­lange wir in Deutschkind waren, ein Rot-Kreuz-Paket.

Während der ganzen Lagerzeit mußten wir dieselbe Kleidung tragen. Nur das Hemd wurde einmal im Monat gewechselt. Um mich nach meiner Lungenentzündung einigermaßen zu schützen, hatte ich ein Stück von meiner Decke abgerissen und mir um den Hals gelegt. Das brachte mir 25 Stockschläge ein. Schrecklich war das! Als ich danach auf meine Baracke zuging, wurde ich vom Lagerältesten zurückgerufen, mußte mich ausziehen und den Kapos zeigen, wie schwer ich geschlagen worden war. Dann mußte ich ihm auf den Knien danken, daß er den Vorfall nicht der SS gemeldet hatte.

Ebenso schlimm wie die körperlichen Schmerzen war das seelische Elend, den ganzen Tag über angeschrien werden, keinerlei Abwechslung, Entspannung oder Begegnung mit der Kultur! Die einzige Informationsquelle war die »Harzer Tageszeitung«, die wir gelegentlich aus der Bauleitung herausschmuggeln konnten. Dann kam der befreiende Monat April. In der Ferne hörten wir den Lärm der sich nähernden Front. Am 5. April holte man die 46 Häftlinge, die in der Krankenbaracke lagen. Angeblich sollten sie nach DORA (2) verlegt werden. (Unser Lager war nämlich inzwischen von Buchenwald aus DORA unterstellt worden.) Aber keiner von ihnen hat das überlebt.

Am 6. April wurde das Lager aufgelöst. Die Amerikaner hatten sieh bis auf 25 km genähert. Der  Todesmarsch begann.  Jeder erhielt  ein Kommißbrot, aber mit dem Hinweis, daß dies für mindestens drei Tage reichen müsse. Man bildete 4 Kolonnen mit je 100 Häftlingen unter SS-Bewachung. An den Füßen trugen wir Holzschuhe -eine denkbar schlechte Ausrüstung für einen langen Marsch.

Wahrend der ersten Marschpause wurde bekannt gegeben, daß alle, die nicht mehr weiter können, sofort erschossen würden. Eine halbe Stunde darauf fiel schon das erste Opfer: Theofiel Cornu aus Puyvelde-Belsele bei St. Niklaas (Belgien). Er war durch Hunger-Ödeme sehr geschwächt und torkelte in der Reihe, kurz vor mir. Die Kolonne hielt an, und Theofiel wurde an den Grabenrand geführt und niedergeschossen. Aber der erste Schuß war nicht tödlich, und er flehte, nicht noch einmal zu schießen. Doch es folgten noch zwei Schüsse. Und die Kolonne mußte weiter, mit dem Mut der Verzweiflung. Und es sollte noch mehr Tote geben, auch noch am 7. April.

Am 8. April näherten wir uns Magdeburg auf 12 km . Da wurden wir auf einem Bauernhof in einer Scheune untergebracht. Unser Brot war fast verzehrt, und neues bekamen wir nicht. Auf einmal entstand ein Streit zwischen zwei Häftlingen. Der eine beschwerte sich, daß Theodor Weemaes aus De Klinge, 5 Kilometer von meinem Wohnort entfernt, ihm den Rest Brot gestohlen habe. Als der SS-Führer an die Scheunentür kam hörte er den Streit und nahm Weemaes mit. Eine halbe Minute spater hörten wir einen Knall. Theodor war auf der Stelle niedergeschossen worden.


« Bruder, überstanden ist das Leiden, Ruhst vom Schuften, ruhst vom Streiten,
Ruhst nun aus von Müh' und Feindschaft. Gebe Gott dir Seinen Lohn.»
Theodor Weemaes - geb. 1908 in Hulst (Niederlande, gest. 9.4.1945 bei Magdeburg)

Nach einigen Stunden Ruhe mußten wir um 2 Uhr aufstehen und in der Finsternis durch die Außenbezirke von Magdeburg marschieren. Wieder hörten wir, wie einige Kameraden erschossen wurden. Einer von ihnen war Jules Harmel, Prior der Abtei Maredsous, ein Bruder des späteren ersten Ministerpräsidenten von Belgien. Er wurde einige hundert Meter, bevor wir eingeschifft wurden, erschossen. Freunde hatten ihn noch mitgeschlept. Abur die SS meinte, nun sei es genug. Ein ganz junger Mann von 20 Jahren aus Gent starb ganz nahe beim Schiff und wurde mit in die Grube geworfen. Mit uns aufs Schiff kam eine Gruppe von etwa 500 Juden. Ohne Schlafmöglichkeit und Toiletten fuhren wir nun Elbe-abwärts in Richtung Neuengamme bei Hamburg. Einige Male mußten wir das Schiff verlassen, um am Elbufer unsere Notdurft zu verrichten. Da aber die alliierten Streitkräfte näher kamen, wurde ab Lauenburg Kurs auf Lübeck genommen. In den Morgenstunden des 13. April verließen wir dort das Schiff.

Dann ging der Fußmarsch weiter in Richtung Ahrensbök. Der traurige Zug wurde von der Bevölkerung mitleidsvoll angestarrt. Einige weinten auch. Wir kämpften uns weiter gegen Müdigkeit, Erschöpfung und Mutlosigkeit. Wie lange noch?

Endlich kamen wir zu einem großen Gutshof. Zu unserer Freude endete hier der Todesmarsch - in Sarau, wie wir dem Wegweiser entnehmen konnten. Doch sogar noch an diesem Tage wurden mehrere Kameraden niedergeschossen. Wir wurden in einer großen Scheune untergebracht. Die am meisten Erschöpften legte man in einen kleinen besonderen Raum. Nun galt es, auf unseren Hunger- und Erschöpfungstod zu warten oder aber auf unsere Rettung. Am 4. Tage hörten wir das Schießen von der nahenden Front. Eine bange Sorge blieb: Würden unsere Bewacher uns lebend an die Alliierten ausliefern? In Angst, aber auch voller Hoffnung hielten wir uns wach. Nur wach bleiben! Die Scheune verließen wir nur zum Appell auf einem großen Platz, der von einer Reihe von Gebäuden umgeben war. Einige Male wurden wir an einen nahe vorbeifließenden Bach getrieben. damit wir uns dort waschen konnten. Einige Häftlinge starben noch an Erschöpfung. Diejenigen, die diese Toten etwas außerhalb des Gutshofes begraben mußten, erhielten einen halben Liter Kohlsuppe.

30. April. Es hing etwas in der Luft. Man sprach von Evakuierung nach Dänemark. Und plötzlich erschien ein Vertreter des Schwedischen Roten Kreuzes in der Scheune und gab bekannt daß alle Belgier, Holländer und Franzosen unter dem Schutz des Internationalen Roten Kreuzes befreit werden würden. Anfangs waren wir ganz verwirrt und konnten es kaum glauben: Es ist überstanden! Die Glücklichen fielen sich um den Hals und tanzten vor Freude, wahrend die Zurückgebliebenen, vor allem Russen und Polen, uns mit traurigen Augen ansahen, dann aber eifrig daran gingen, unseren kümmerlichen Besitz unter sich aufzuteilen.

Noch ein letztes Mal mußten wir antreten, zum »Befreiungs-Appell«. Dann sahen wir vier Lastwagen vom Kanadischen Roten Kreuz. Diese sollten uns wegbringen, wohin, wußten wir nicht. Aber nun hatten wir unsere Namen zurück, und wir richteten unsere Gedanken auf unser Land, unser Dorf, unsere Familie. Ob sie wohl die Befreiung ohne schlimme Folgen erlebt haben? Wie mag es den Eltern und Geschwistern gehen? Und vor allem: Wie werde ich Esther, meine Verlobte, wiedersehen? Ich danke Gott, daß ich überhaupt noch am Leben bin.

Die vier Lastwagen wurden vollgestopft mit den Befreiten. Wir standen dichtgedrängt, aber nun wußten wir, daß das nur von kurzer Dauer sein konnte. Und so kamen wir nach Travemünde. Dort lagen schon zwei Schiffe: die »Magdalena« und die "Lillie Matthiessen«. Auf dem Schiff befanden sich auch noch 500 Mann aus Neuengamme, und auch die Juden, die in Lübeck von uns getrennt worden waren, trafen hierein. Wir waren noch nicht abgefahren, als alliierte Jagd­bomber den Hafen angriffen, aber ohne uns zu schaden. Dann legten wir ab. Noch auf See erhielten wir alle ein Rot-Kreuz-Paket. Wild vor Freude öffneten wir die Pakete sofort und fingen an alles auf einmal zu essen: Käse Butter, Schokolade. Fischkonserven usw.

Brüssel, 12.8.1945- mit der schwedischen Flagge: Omer Plaquet (links), Albert van Hoey
 (mitte),
Cyrille Le Hoock - mußte  auf der Bahre von Bord getragenwerden (rechts)

Die Raucher waren besonders glücklich, daß die sich endlich wieder eine Zigarette anzünden konnten. Und die Folgen blieben nicht aus: Schon nach wenigen Stunden hatten die meisten einen gewaltigen Durchfall. Am Morgen des 2. Mai kamen wir in Trelleborg an. Während der Überfahrt waren leider noch zwei Häftlinge gestorben, sieben weitere starben in einem schwedischen Krankenhaus. In Schweden wurde uns ein ausgezeichneter Empfang zuteil. Unsere Lagerkleidung wurde verbrannt, um Infektionen vorzubeugen. Nur meine Lagernummer erhielt ich - desinfiziert - zurück. Die örtliche Tageszeitung von Trelleborg brachte ausführliche Berichte über unsere Ankunft. Wir erhielten alle neue Unterwäsche und einen Herrenanzug. Und wir aßen, aßen, aßen, als könnten wir nicht genug bekommen. Viel Milch und Obst gab es. Nach 14 Tagen Quarantäne wurden wir gruppenweise in anderen Orten untergebracht. Ich kam nach Veigne, 25 km südöstlich von Halmstad. Versorgt wurden wir vom Schwedischen Roten Kreuz. Am Tage konnten wir uns frei bewegen und wurden von den Leuten eingeladen und herrlich bewirtet.

Doch dann wurde ich plötzlich krank: große Müdigkeit und hohes Fieber. Am 4. Juni wurde ich bewußtlos ins Epidemie-Krankenhaus von Halmstad gebracht mit Bauchtyphus. Über fünf Wochen, bis zum 10. Juli, blieb ich bewußtlos, mit dauerndem Fieber von 40-41 Grad. Wegen der Infektionsgefahr durfte ich keinen Besuch empfangen. Mitte Juli wurden meine Freunde nach Belgien entlassen.

Ich wog nur noch 37 Kilogramm und konnte mich nicht auf den Beinen halten. Aber es stellte sich eine gewaltige Eßlust ein, und bald nahm ich täglich fast ein Kilogramm zu. Ende Juli konnte ich wieder auf meinen Beinen stehen. Als am 10. August die Laborergebnisse zum fünften Mal negativ ausgefallen waren, durfte ich endlich das Krankenhaus verlassen. Mit dem Zug fuhr ich nach Malmö. Am 11. August ging es per Schiff nach Kopenhagen, und am Nachmittag mit einem englischen Flugzeug nach Brüssel.

Am 12. August wurde ich durch etliche Mitglieder der Kirchengemeinde und durch meine Familie in Brüssel abgeholt. Es war ein rührendes Wiedersehen. Der verlorene Sohn kehrte nach Hause zurück. Zwei Tage lang wurde in der Gemeinde gefeiert. Aber es dauerte noch bis zum März 1946, bis ich meine Berufsarbeit als Lehrer wieder aufnehmen konnte. Ein Erholungs­aufenthalt von zwei Monaten in der Schweiz, vom Juli bis August 1946, hat mir sehr gutgetan. Dennoch leide ich an einem kalten Abszeß zwisehen den Rippen.

  

Vernoemde namen

Cornu Theofiel
Harmel Jules 1, 2
Le Hoock Cyrille
Leloir
Plaquet Omer
Weemaes Theodor

Kampen

Gent
Antwerpen
Buchenwald

Blankenburg
Magdeburg
Lübeck
Sarau  

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